Aus Mangel für Verantwortung

TanzJournal 1 Apr 2005German

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Contextual note
This text was written following a fierce debate concerning my role in Berlin's performing arts funding and some comments of mine on the state of dance criticism that had been published in an article by Jeroen Peeters in december 2004 (Tanznacht Berlin catalogue). Without answering directly to those colleagues and actors in the field that were attacking me and have continued to destabilize my professional situation ever since, I wanted to clarify some of the concerns in my work.

Verantwortung, verstanden als ethische Kategorie des Handelns in Bezug auf eine Gesellschaft, scheint auf den ersten Blick viel zu umfassend, um sie bloß ausschnitthaft und fallorientiert zu betrachten. Andererseits ist Verantwortung immer auch eine subjektive Angelegenheit, eine Sache des einzelnen. Daher sollte es sehr wohl möglich sein, über die eigene Rolle in einem gegebenen Handlungskontext nachzudenken, die Motive offenzulegen, welche in den verschiedenen Prozessen der gesellschaftlichen Anteilnahme und Verflochtenheit wirksam sind und so eine Durchsichtigkeit des eigenen Verantwortungssystems herzustellen. Diese Durchsichtigkeit – im Sinne von Transparenz – könnte im besten Fall zu einer Durchschaubarkeit meiner Entscheidungshandlungen für alle diejenigen führen, die von ihnen mittelbar oder unmittelbar betroffen sind. (Dabei muß ich natürlich voraussetzen, daß es eine Wirkung meines Handelns für andere überhaupt gibt, wofür ich allerdings Anhaltspunkte habe; und ich muss voraussetzen, daß Interesse an solch einer Durchschau besteht.)

Aus der Einladung des TanzJournal, für einen Schwerpunkt zum Thema Verantwortung im Bereich des Tanzes beizutragen, entwickelte sich ein sehr subjektiver Zugriff. Mir wurde deutlich, daß in meiner beruflichen Praxis an wenigen Themen das Nachdenken so sehr vom Allgemeinen ins Besondere und vom Besonderen zurück ins Allgemeine sich bewegt wie beim Thema Verantwortung. Ist es doch ein Feld, welches den Widerspruch zwischen guten Absichten und schlimmen Folgen, zwischen Pragmatismus und Idealismus, zwischen Gerechtigkeit und Angemessenheit, zwischen recht haben und richtig handeln zum Inhalt hat.

Es gilt, über das Entscheiden, über das konkrete Handeln nachzudenken und womöglich Rechenschaft abzulegen. Und zwar so, dass die in jedem Handeln unvermeidlich auftretenden Konflikte zwischen dem eigenen und dem kollektiven Blick zwar nicht aufgehoben, aber doch zumindest verständlich werden.

Ausschlaggebend für diesen persönlich gehaltenen Versuch einer Bilanz sind etliche Jahre der Erfahrung im Bereich Tanzkritik; zwei Jahre der Erfahrung im Umgang mit Fördermitteln und ihrer Verteilung; und schließlich Debatten, zum Teil lang anhaltend geführte, innerhalb der Kollegenschaft.

Fünf vorläufige Thesen haben sich dazu herausgestellt, auf die ich während meiner Beschäftigung mit diesem Thema immer wieder zurückkomme.

1.

1. Verantwortung ist die Bereitschaft, das eigene Handeln stets als fragwürdig zu betrachten, d. h. in den eigenen Positionen selbst beweglich und erschütterbar zu bleiben.

2.

2. Verantwortung heißt, die Differenz zu sehen zwischen der eigenen, zufälligen Funktion samt ihrer zufälligen Bedingungen und dem „übergeordneten“ Zweck.

3.

3. Verantwortung heißt, in bestimmten Situationen inkonsequent, parteiisch, voreingenommen zu sein; heißt, vertrauensselig, angreifbar, ratlos zu sein; heißt, den Unwägbarkeiten sowohl der eigenen Meinung wie der Prozesse zur Entscheidungsfindung, den ästhetischen und den subjektiven Eindrücken gegenüber gelassen zu bleiben, den intellektuellen Ansprüchen zu folgen, ohne die Sinnlichkeit zu vergessen; kurz gesagt: nicht nur auf Urteil und Meinung, sondern auf Kommunikation und Prozeß zu setzen.

4.

4. Verantwortlich handeln heißt nicht zuletzt (vielleicht sogar zuallererst), sich auf Verhältnisse, Bedingungen, Strukturen einzulassen, die man nicht immer gutheißen kann, ja die einem bisweilen höchst fatal vorkommen und die einem selbst nichts nützen (manchmal sogar schaden); Verhältnisse, die immer mangelhaft sind, aber trotzdem notwendig bleiben, um Durchlässigkeit, Entwicklung, Veränderung, Vielfalt im Tanz zu ermöglichen.

5.

5. Verantwortung bedeutet aber auch, ab einem gewissen Punkt bestimmte Praktiken, bestimmte Handlungsformen, bestimmte Meinungsbildungen, bestimmte Realisierungsweisen, bestimmte Präsentationsformen nicht mehr mitzutragen: nämlich dann nicht, wenn sie nurmehr noch selbstgefällig, repetitiv, kunstfeindlich und konsumistisch geworden sind, wenn ihnen die Relevanz und das Ziel abhanden gekommen sind im bloßen Betrieb der Kunst.

Und wie sieht das in der Realität aus?

Verantwortlich entscheiden bedeutet im Tanzbereich in der Regel, eine grundsätzlich unbefriedigende Situation (des Mangels, der Starre, der Vernachlässigung, der Machtsphären) so zu lenken oder zu beeinflussen, daß weiterhin „wertvolle“ Ergebnisse erzielt werden können.

Verantwortung versuchen heißt, künstlerische Aussagen, im gegebenen Fall choreographische und tänzerische, so weit wie irgend möglich mit ihrer Entstehung zusammen zu denken, um ihr Erscheinungsbild erklärend nachzuvollziehen, ohne daraus Werturteile abzuleiten, welche letztendlich gar nicht in Bezug zum Kunstwerk stehen, sondern dem höheren Glanze des Rezensenten oder des Entscheidungsträgers dienen würden.

Doch das unterscheidet die Verantwortung des Kritikers, Jurors, Beobachters, Kommunikators, Programmleiters im Tanz eigentlich kaum von anderen Metiers der Kultur. Hier erscheint die Verantwortung vielleicht doch in ihrer allgemeinen, in ihrer gesellschaftlichen Form: Gleich an welchem Platz, in welcher Funktion, in welcher Rolle und an welchem Gegenstand – verantwortlich kann nur handeln, wer die eigene Rolle nicht wichtiger nimmt als den Gegenstand, der diese Rolle überhaupt erst definiert.

Ist es aber der Logik dieses Gegenstandes – hier also des choreographischen Kunstwerks – gemäß, anzunehmen, es könne eine solche Nahtlosigkeit, eine solche Selbstvergessenheit des einzelnen Akteurs gegenüber der Gesamtheit des Phänomens geben?

Bleibt nicht immer nur das Subjektive, die individuelle Rechenschaftspflicht, das groß- oder kleingeschriebene ICH?

Möglicherweise entspricht dem strukturellen Mangel, welcher im Tanzbereich (vielleicht in der Gesellschaft insgesamt) allenthalben herrscht, auch die strukturelle Unmöglichkeit, jemals einhellig zu handeln. Vielleicht ist der Kampf um Ressourcen, um Öffentlichkeit, um Wahrnehmung und Würdigung einerseits unvermeidliches Treibmittel allen verantwortlichen Handelns – man muß versuchen, „das Beste draus zu machen“ –, gleichzeitig aber auch derjenige Faktor, welcher die „optimale“ Lösung immer und prinzipiell vereitelt. Vielleicht ist also eine Tanzförderung ohne Künstler, die leer ausgehen, vielleicht ist eine Spielstättenförderung ohne Häuser, die dennoch darben, vielleicht ist eine Gastspielkultur, welche aller Mobilität irgendwann Grenzen setzen muß, vielleicht ist diese Versagung ganz einfach unvermeidlich, um nicht der totalen Beliebigkeit, der ungelenkten Fülle, dem Verschwinden des künstlerischen Phänomens im Rauschen des Allgemeinen Vorschub zu leisten.

Diese Entscheidungshandlungen wären dann performative Akte im ursprünglichen Wortsinn: Akte der Ermöglichung oder Verhinderung. Und zwar innerhalb einer Kunstpraxis, die funktionell zwischen Produktion, Distribution und Rezeption trennt, ohne dabei immer sehr klar zu sein, wem in diesen drei Gruppen welche Verantwortung zukommt und wie der/die Betreffende ihr am besten begegnen würde. Gerade hier könnte die eigentliche Schwierigkeit liegen: Vielleicht muß man sich mit dem Grundsatz abfinden, daß es niemals „richtige“ Entscheidungen geben kann, also solche, die allen nützen und niemandem wehtun. Sondern bestenfalls gut begründete.

So bliebe dann zuletzt für den Akteur innerhalb solcher Strukturen der Entscheidung über Förderung, Auftritte, Programmplanung, Medienpräsenz etc., der zugleich verantwortlich und kreativ, sachbezogen und persönlich, strukturell denkend und interessegeleitet agiert, so bliebe also zuletzt vielleicht nur das Fazit: Verantwortung ist, wenn man hinterher sagen muß „Das habe ich jetzt davon“.

Denn man gewinnt als Juror, Rezensent oder Kurator nur wenige Freunde, überraschende Feinde und vor allem viele Gegner. Doch was nach Resignation klingt, ist zugleich ständiger Auftrag, persönliche Angriffe und Verletzlichkeiten zurückzustellen; ist Auftrag, die Perspektive stetig zu wechseln und eben einen konkreten Ort der Verantwortung zu suchen, eine Sphäre, wo es nicht um die meiste Macht, sondern die beste Lösung geht.

Im Laufe einer hitzigen Berliner Lokaldebatte über die Rolle der Tanzkritik habe ich einen Brief erhalten, aus dem ich nachfolgenden Abschnitt zitiere. Meiner Ansicht nach formuliert er die zur Debatte stehenden Notwendigkeiten und Erfordernisse besonders klar:

„Wenn ich Kritiken lese, dann interessiert mich als Leserin am wenigsten, wie der jeweilige Kritiker persönlich zu einem bestimmten Künstler steht. Mich interessiert: Was wurde auf der Bühne dargeboten? In welchem inhaltlichen Zusammenhang steht die künstlerische Arbeit? Bemüht sich der Kritiker, mir hiervon einen Eindruck zu vermitteln? Oder ist er nur einer persönlichen Laune verfallen? Oder ist er Anhänger eines Lagers, sodass es egal ist, was auf der Bühne geschieht, wenn es nur die ‘Richtigen’ sind? Die ‘Falschen’ werden dann verrissen. Aus dieser Geisteshaltung wird Jeder und Jedes in Lager und Schubladen hineininterpretiert. Ich will das gar nicht wissen!“

In demselben Zusammenhang habe auch ich mich geäußert und in einem Augenblick der Ratlosigkeit einem Freund geschrieben. Er möge es mir verzeihen, daß ich das Nachstehende hier wiederhole:

„Alle wollen cool sein, aktuell sein, schmissige themen schmissig transportieren (dem Publikum verpflichtet!) und Fragen erst und nur dann stellen, wenn alle denkbaren Antworten schon gegeben sind. Was wollen wir da dagegen setzen? ... Bei allem frust, den diese Misere manchmal bereitet, bin ich noch nicht bereit, alles scheiße zu finden. Es gibt nach wie vor gute künstler, gute ideen, gute kontexte, gute strukturen, gute stücke.“

Damit das so bleibt – und damit jeder aus der Fülle der gegen alle Widrigkeiten dennoch entstehenden Kunstwerke seinen Tanz findet (ob als Zuschauer, Autor, Tänzer, Politiker, Kritiker, Forscher ...) –, möge jeder sich an seinem Ort seiner schöpferischen, gesellschaftlichen und individuellen Verantwortung stellen.

Man habe kein Recht, in diesen Dingen moralisch zu argumentieren, hat mir unlängst im Gespräch eine Kollegin gesagt. Ich glaube, es verhält sich genau umgekehrt: Gäbe es mehr moralische Erwägungen und ethische Rücksichten, könnte die Kultur des Mangels, und zwar nicht nur im Tanz, für alle Seiten leichter erträglich werden.