Bahnsteigfegen, Beatboxen, Kunstpfeifen

Kunst und Katharsis auf der deutschen Tanzplattform 2006

Theater der Zeit 1 Apr 2006German

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Sehen und gesehen werden. Das ist das Prinzip der Tanzplattform. Im Theaterhaus Stuttgart, wo die deutsche Biennale des zeitgenössischen Tanzes dieses Mal stattfand, fiel das Fazit in den Foyers aus wie es am Ende meistens ausfällt. Irgendwie steckt der Tanz noch oder schon wieder in der Krise. Was nicht verhindert, dass nach kathartisch erschöpfenden Tagen alle in dem Gefühl auseinander gehen, in ihren guten Hoffnungen und bösen Ahnungen bestätigt worden zu sein. Das ist das Schöne an Veranstaltungen wie der Tanzplattform. Der Stand der Kunst, den sie abzubilden versuchen, ist genau so lange nützlich und aktuell wie das mit über 30 Vorstellungen und Präsentationen in nur fünf Tagen einschüchternd dicke Programmbooklet.

Anders als beim Publikumsfestival Theatertreffen birgt ein Auftritt hier für die Künstler trotzdem ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Es geht nicht nur um die Ehre, in den Augen einer Jury als „relevant“ innerhalb von zwei Jahren Tanzschaffen in Deutschland eingestuft zu werden. Mit 480 internationalen Akkreditierungen war die Zahl angereister Produzenten, Kuratoren, Veranstalter und Journalisten bei der 7. Tanzplattform so hoch wie nie. Ihr Überblickscharakter, und das Versprechen, wichtige künstlerische Tendenzen widerzuspiegeln, macht die Schau zur Einkäufermesse. Wer hier Eindruck hinterlässt, kann hoffen, dass sich das im Tourplan niederschlägt. Manche Choreografen verdanken der Plattform allerdings auch einen vorübergehenden Karriereknick. Wie beim Theatertreffen wird über das Für und Wider von Präsentationsform und repräsentativem Anspruch des Formates an sich viel und eigentlich zu wenig und durch die dichte Abfolge zu kurz über die einzelnen Produktionen gesprochen. Dabei bedingt eins oft unvorteilhaft das andere. Zum Beispiel führte der Wunsch der diesjährigen Jury aus Bettina Milz, Madeleine Ritter und Gerald Siegmund, mit Sasha Waltz und Meg Stuart zwei prominente Positionen für die große Bühne zu zeigen, dazu, dass man beider Stücke ungesehen vor ihrer Uraufführung einlud. Stuarts Monströsitätslabor „Replacement“ (TdZ 3/06) wurde wie bei der Berliner Premiere kontrovers, doch konzentriert aufgenommen. Waltz' betroffenes Ausstattungstheater „Gezeiten“ (TdZ 1/06) über den Umgang mit Naturkatastrophen dagegen bleibt noch eine Stunde gekürzt ihre schwächste Arbeit. Das sahen wohl auch viele so, die die Vorstellung vorzeitig verließen.

Umstritten war im Vorfeld die Entscheidung, Uraufführungen zu zeigen. Soll man Künstler dem Risiko aussetzen, dass sich eine vielleicht noch nicht runde Arbeit unter den verschärften Bedingungen der Plattform auf einen Schlag international unmöglich macht? Die Frage erübrigt sich nicht, aber in Stuttgart konnten beide Premieren mit dem Druck der Situation umgehen. Sie sorgten in der berlinlastigen und kaum überraschenden Gesamtauswahl für reizvolle Unschärfen. Bei „Subtitles“ von Christina Ciupke und Nic Haffner liegt die Stärke im Understatement. „Kannst du mich anpusten?“, raunt sie ihm zu und eilt ihm zu Hilfe, der schon nach hinten kippt, so als hätte sie ihn gerade umgeblasen. Sie und Er setzen Sprache und Bewegung ins Verhältnis zu einander, jedes mal als Auslöser, mal als Effekt das jeweils anderen. Sie verlangen einander einfache Handlungen ab, die sie umsetzen und variieren, bis sich die Kausalkette von Bitten, Pusten, Fallen heillos verwirrt. So unscheinbar die Anordnung, so plastisch werden die Akteure Ciupke und Haffner. Ihr behutsamer Schlagabtausch ergibt nicht nur in Hinblick auf Wort und Tanz ein Beziehungsstück.

Thomas Lehmen steckt das Publikum locker in die Tasche seines Blaumanns, mit Kunsttückchen und närrischer Binsenweisheit. „Lehmen lernt“ knüpft an seine Anfänge an - geradlinige, ruppige Soli - und es behandelt ein Thema, das die Evolution mit der „Sendung mit der Maus“ verbindet. Die Kunst des Lernens. Beginnend mit der Geburt und in kleinen Schritten einmal quer durch die Menschheitsgeschichte. Lehmen lernt schreien, atmen, trinken, schauen. Später lesen, schreiben, scheißen. Dann Brücken, Straßen, Kraftwerke bauen, Freiheit als höchstes Gut betrachten, Kriege führen und sich von der Bewegung leiten lassen. Live und im Film sieht man ihn im Feldversuch, sich die Erde Untertan machend. Beim Kuchenbacken, im Flugzeug, im Kanu, beim Bahnsteigfegen, Beatboxen, Kunstpfeifen, Schreinern und Meditieren. Alles unter fachkundiger Anleitung von Leuten, die ihr Ding verstehen. Wie Lehmen ihnen das abguckt und wir ihm dabei zugucken, wie er hoch konzentriert vormacht, was er vorher lange genug nachgemacht hat, ist so platt und tiefgründig wie die Hingabe, mit der bei Shakespeare ein Handwerker einen Schauspieler vorstellt. Als dummer August mit Pappnase (auch Clownerie hat er nämlich gelernt) posaunt Lehmen schließlich aus, was das ganze Theater soll und will: gemeinsam die Welt verändern. Blöd klingt das, banal, aber auch toll. Luzide balanciert er zwischen Zirkusnummer und Publikumsbeschimpfung, bis man erst ganz am Ende merkt, dass der Tanzbär die Zähne fletscht, noch während er brav für uns brummt.

Höflich dazu gebetene Lokalmatadore knickten ein, diesmal die Stuttgarterin Nina Kurzeja. „Nell wartet“ frei nach Beckett in hausbackener Tanztheatertristesse. Einige alte Bekannte schafften Siege nach Punkten wie She She Pop, die bei ihrem schamlosen Mitmach-Ballroom „Warum tanzt ihr nicht“ unter immensem Kraftaufwand die Verweigerungshaltung anwesender Programmdramaturgen in Sambaschritt aufweichten. Eszter Salamons Gendermaskerade „Reproduction“, in Berlin kaum wahrgenommen, wurde unerwartet hoch gelobt für choreografische Präzision und Dichte, aber auch die Gabe der Selbstironie. Und Martin Nachbar und Jochen Roller geben mit ihrer auf der Basis von Rundgängen durch fünf Städte verspielt ausufernden Tanzkartographie Enkel ab, an denen die Situationisten ihre Freude gehabt hätten. Als hohl entpuppten sich dafür Helena Waldmanns „Letters from Tentland“. Von den Superlativen, die diese erste Produktion einer westlichen Choreografin in Teheran bei ihrem Siegeszug von Festival zu Festival begleiten, bleibt wenig mehr als der sich in der Sicherheit seiner offensiven political incorrectness wiegende Coup, Iranerinnen in Zeltkostüme zu stecken.

Es kam der Tag fünf, und alle stellten fest, dass es doch schön war in Stuttgart. Auch dank der entspannten Professionalität und beinahe beängstigenden Freundlichkeit der Theaterhaus-Mannschaft. Sogar die Absage einer letzten Uraufführung vom Hauschoreografen des Stuttgarter Balletts, Christian Spuck, die vom finalen Abend nur glücklos herausgegriffene Stadttheaterballette von Marco Goecke, Kevin O'Day und Marguerite Donlon übrig ließ, tat dem keinen Abbruch mehr. 2008 geht es nach Hannover. Mit guten Hoffnungen und bösen Ahnungen. Bis dahin allseits viel Erfolg.