Brainstorming... (Dt.)

Über die vergessene Debatte zur Tanzkritik in Berlin

Tanz made in Berlin 1 Dec 2004German

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Contextual note
This text was published in a slightly edited version in the catalogue Tanz Made in Berlin, published in December 2004 on the occasion of the Tanznacht.

Seit ein paar Jahren, scheint Berlin Gastgeberin einer der lebhaftesten Tanz und Performance Szenen weltweit zu sein. Wunschvorstellungen über eine Form von Gemeinschaftsidentität des ‘Berliner Tanzes’ vermitteln dem Außenstehenden ein starkes Gefühl von Zusammenhalt, die jedoch auseinander zu fallen droht sobald man sie zurück auf das lokale Milieu projiziert. Gesprächen mit Beteiligten zufolge, wird jegliche Form von Gemeinschaftsgrundlage zum echten Kampfgelände, aus dem sich örtliche Kompanien und künstlerische Institutionen um Förderung und Anerkennung ringen, wo das Produzieren und Verbreiten einer Performance ein Kraftakt ist. Die Szene wartet geradezu auf den Auftragskiller aus Jochen Rollers düsterer Vision der Tanzwelt, vielleicht noch eher als 2045. Ja, es gibt Kreativität und Experimentierfreudigkeit und Austausch, und ja, Berlin ist womöglich eine Tanzmetropole. Die aktuellen Diskussionen und Beschwerden über Geld und Kulturpolitik scheinen nur die klare Perspektiven und das Kollaborationsgefühl getrübt zu haben.

Was ist los? Das ist eine viel zu gewaltige Frage, aber eine bestimmte Debatte scheint vollends vergessen: die der Kritik und der kritischen Reflektion von Tanz. Während die poppige Zeitschrift ballettanz eine Sonderausgabe über Berlin herausbringt und die Tanzkritikerin der FAZ nicht aufhört sich über alles auszulassen was zu ‚konzeptuell’ oder zu verunsichernd in seiner ‚Stille’ ist, ist das geringe örtliche Interesse an einer Verbesserung der Tanzkritik bedenklich. Ist nicht eine kritische Begleitung der neuen künstlerischen Tendenzen notwendig um die Vielfalt, Hybridität und Komplexität ihre Anstrengungen zu berücksichtigen? Um einen diskursiven Kontext zu bieten sowie um ein generelles Diskussions-, Reflektions- und Austauschklima zu schaffen? So lebendig und experimentierfreudig die Szene auch sein mag, sie riskiert als Zombie zu enden wenn sie, aufgrund eines Mangels an Kommunikation and Kontextualisierung, vom interessierten Publikum abgeschnitten wird. Alle Partien tragen hier die Verantwortung dafür: Spielstätten, Festivals und Produzenten, Zeitungen und spezialisierte Zeitschriften, Universitäten, Künstler. Als Kritiker und Herausgeber von Sarma, interessiert mich das Thema von Kritik in Berlin brennend, insbesondere da Sarma zur Zeit eine Berliner Plattform vorbereitet. Auf der Suche nach einer Basis um die Debatte zu eröffnen, sprach ich mit vier Leuten, die, aus unterschiedlichen beruflichen Perspektiven, ein starkes Interesse am Diskurs hegen, Wie sehen sie Tanzkritik in Berlin?

Die spärliche und beliebige Berichterstattung über Berliner Tanz und Performance in lokalen und bundesweiten Zeitungen ist ein Problem, ein größeres ist, wie sie gemacht wird. Einer allgemeinen Medienkrise, in dem populäre Diskurse gedeihen und die Leser als Informationskonsumenten betrachtet werden, ausgesetzt, hat die Kritik von zeitgenössischem Tanz ein Problem. Es gibt eine Kluft zwischen den Erwartungen und Formaten der Zeitungen und dem Spielerischen, für den der neue Tanz steht, und dies ergibt all zu oft in Vorurteilen durchtränkte Kommentare.

„Kritik würde in ihrer idealen Form einen Diskurs schaffen, den im und vom Tanz kreierten Diskurs in den öffentlichen Raum hinein übersetzen und einen andauernden Dialog zwischen Kunst und Verständnis eröffnen,“ erklärt der Tanzkritiker Franz Anton Cramer. „Es ginge weniger um Geschmack und seine Hierarchien und mehr um das Sehen und Kontextualisieren. Der Großteil der Tanzkritik in Deutschlands großen bundesweiten Zeitungen steht jedoch in totalem Kontrast zu diesem Idealbild, und es ist genau dieser Stil, oder diese Praxis, die Zeitungen wollen. Also scheint es eine Form von negativem öffentlichem Konsens darüber zu geben was für eine Art Kritik notwendig ist. Dies ist natürlich entsetzlich, aber es sagt viel aus über die Situation der Medien und dem des öffentlichen Raums im Allgemeinen.“ Cramer zufolge, braucht Berlin neue Kanäle oder ein selbst bestimmtes Magazin, „umunabhängig von dieser Art hierarchischer, totalitärer Kritik zu werden.“

Unberührt von den internen Richtlinien der Zeitungen, sieht Choreograf Martin Nachbar das weniger zynisch und erkennt sogar eine ziemlich gute Anzahl „anständiger“ Kritiken in örtlichen Zeitungen. Trotzdem, findet er die Einstellungen oft altmodisch: „Zeitungskritiker bedienen hauptsächlich eine traditionelle Form von Kritik, die sich nicht nur as unabhängig und unbeteiligt rühmt, sondern sich vollkommen außerhalb der Tanzszene positioniert. Es gibt nur wenige Interviews, Kritiker scheuen sich in Dialog mit Künstlern zu treten, sie verfolgen nicht ihren Prozess, sondern schreiben immer nur weitere Rezensionen. In Brüssel oder Frankfurt, wo ich früher gelebt und gearbeitet habe, ist die Situation anders, es gibt ein gesundes, offenes und beteiligtes Klima.“

Außerdem hat Nachbar ernsthafte Unterschiede in den Ansichten von Kritikern über Choreographie beobachtet; Differenzen, die eher zu Meinungen anstelle von Verständnis führen. „Eine erzählende Herangehensweise an Choreographie und der Kult des schönen Körpers sind immer noch viel stärker präsent als ein Verständnis von Choreografie als Diskurs. Aber dieses Phänomen arbeitet innerhalb der Kunstszene selbst ähnlich. Vertraut mit neuen Überlegungen und Tanztheorie sind oft die Tänzer und Choreografen, die im Ausland studiert haben. Einen Mangel an zeitgemäßer Tanzausbildung in Berlin ist auch Teil des größeren Problems.“

Distanz ist es auch was Pirko Husemann, Tanz- und Theaterwissenschaftlerin aus Frankfurt, erfährt: „Theorie und Praxis sind überall in Deutschland sehr weit entfernt voneinander. Wissenschaftler sind damit beschäftigt in Konkurrenz zu anderen Disziplinen ihr eigenes Terrain abzustecken und zu verteidigen. Sie betrachten Journalismus und die Kunst als vollkommen verschiedene Welten. Tanzabteilungen an Universitäten verschwenden keine Mühen darauf Kritisches Schrieben zu unterrichten: Seminare zu Tanzkritik könnten dazu betragen das Interesse der Studenten für das Erlernen desselben zu wecken, im Moment haben sie einfach keine Möglichkeit dazu. Wenn die beteiligten Künstler, Produzenten, Kritiker und Theoretiker sich mehr auf Gegenüberstellungen und Austausch und weniger auf Unterscheidung und Verteidigung konzentrieren würden, dann könnte dies Idealerweise in einer Ansammlung von Kräften und einer Bewegung hin zu gemeinsamen Zielen münden. Vielleicht sogar in einer strukturellen Verwandlung, welche die jetzt so getrennten, jedoch in abhängig stehenden Bereiche des Tanzes, des Markts, des Journalismus und der Wissenschaft in eine starke Kooperationsgemeinschaft durch die Formierung von mehr oder weniger zeitlichen und instituionalisierten Foren umgestalten.“

Zu diesem Zeitpunkt ist der starke Gegensatz in Deutschland zwischen den Stimmen, die experimentale Arbeit unterstützen und denen die konservative Poesie hochschätzen, nicht sehr produktive. Kritiker verteidigen Teile der Szene oder lehnen sie ab und weigern sich auf den gleichen Panelen zu sitzen. Zeitschriften wie ballettanz sind begierig zu polarisieren: die Tanzszenen und die Öffentlichkeit sind mehr oder weniger in zwei nebeneinanderher existierende Welten geteilt. (Lesen Sie dazu z.B. die Diskussion über Wiebke Hüsters Ergüsse in ‚Postmoderner Tanz – nur noch ein Feld für Masochisten?‘, Tanznetz.de, September 2003.) Trotz Überlegungen zur Differenz und Anders-Sein scheinen sie kaum die Schreibpraxis zu beeinflussen. Eine Diskursanalyse mancher kritischen Oeuvre ist vielleicht eine Forschungsidee für Gabriele Brandstetters Tanzwissenschaftsabteilung: wie können Kritiker, die mit der Arbeit von Pina Bausch aufgewachsen sind, solch unterschiedliche Positionen entwickeln?

Und die Spielstätten, wie beteiligen sie sich an einem neuen Reflektionsklima? Tanz im August hat in den letzten Jahren Kritikworkshops organisiert, die Tanzfabrik hält monatliche Diskussionen über neuere Arbeiten, HAU hat mit dem Context Festival sogar eine integrierte Initiative gestartet. „Das Context Projekt war ein ziemlich erfolgreicher Versuch, da es versucht hat nicht nur einen klaren Blick auf Tanz zu vermitteln, sondern auch Tanz, in eine gemischten Programm aus Aufführungen, Vorträgen und Diskussionen, zu erläutern. Was auch ein ernsthaftes Interesse bei den Zuschauern geweckt hat,“ erzählt Kuratorin Petra Roggel, zur Zeit künstlerischen Leiterin am Kaaitheater in Brüssel. Wie würde sie versuchen die isolierten Events und die Gewohnheiten des Familiären zu überwinden? „Ein Regierungsprogramm ist wahrscheinlich zu massiv, ich glaube eher an Einheiten, die im kleineren Umfang funktionieren. Sie sind flexible genug um neue Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln, um neue Verbindungen mit Partnern einzugehen und alternativen Möglichkeiten der Finanzierung zu finden. Ich denke da an das Festival imPACT 04 in Essen oder westend 04, was in Leipzig von Heike Albrecht organisiert wird. Sie hinterfragt kontinuierlich ihre Arbeitsmethoden, die einen wesentlichen Teil ihres Interesses am kritischen Diskurs ausmachen. Eine Zusammenarbeit auf internationalem Niveau ist wahrscheinlich auch ein Weg um den endlosen Kampf vor Ort um Identität und Anerkennung hinter sich zu lassen.

Tanz und Diskurs sind keine stabilen und unabhängigen Entitäten mehr, so wie in der Moderne. Brauchen wir nicht eine andere Art der Kritik, eine andere Praxis des Austausches und der Zusammenarbeit, der Annäherung und der Distanz? Es ist wichtig, weiter für die existierenden, öffentlichen Kritikräume zu kämpfen und die Medien auf ihre Verantwortung in Bezug auf qualifizierte und engagierte Kritik hinzuweisen. Trotzdem scheint auch Franz Anton Cramers Vorschlag zur Gründung eines unabhängigen Mediums sehr wichtig.

Sarma, online Plattform für Tanz- und Performancekritik, will sich dieser Herausforderung stellen, in dem sie in 2006 die BB Chronicles startet, in Zusammenarbeit mit Damaged Goods. Das Ziel wird sein, reguläre Korrespondenten einzuladen um Einsicht in die Topologien zweier Tanzgemeinschaften (Berlin und Brüssel) zu bieten und damit künstlerische Analyse und Sozio-kritik zu verbinden. Ziel ist es auch, der Szene ein Werkzeug zur Selbstbeobachtung auf kritischer Art und Weise in die Hand zu gebe und aktuelle Tendenzen und bleibende Fragestellungen aufzuzeigen, all dies in Bezug auf die jeweilige Komplexität aller Beteiligten. Und, sich mit dem imaginären diskursiven Vakuum um Tanzpropuktionen herum zu beschäftigen, in dem man auf die existenten aber verstreuten Untertöne der Reflexion hört und diese mehr hervorhebt. Währenddessen muss das Brainstorming weitergehen, surfen Sie mal beim Sarmas Forum vorbei und beteiligen Sie sich and der Diskussion, geben Sie Ideen dazu und lesen Sie noch mehr Kommentare (www.sarma.be).