Vibrierender Abklatsch

Sarah Michelson beim Tanz im August

Berliner Morgenpost 1 Aug 2004German

item doc

Contextual note
shortened manuscript version

Theater verkehrt. Das ist „Shadowman Part 1“ auf den ersten Blick. Dessen gewohnte Richtung auf die Bühne hat sich in den Sophiensaelen umgedreht. Die Sitzreihen sind dem Ausgang ins Foyer zugewandt. Auf der Galerie darüber wacht demonstrativ sichtbar der Techniker über seinem Pult. Die Saaltüren öffnen sich, das Licht fährt hoch – Spielbeginn und nur ein Spiel bis hierher, denn die eigentliche Qualität der Sarah Michelson besteht nicht in visuellen Pointen. Die 39-jährige, gebürtig in Manchester, erfolgreich in New York und darüber hinaus (im Anschluss erwartet sie eine Auftragsarbeit für das Ballett Lyon), ist die Entdeckung des diesjährigen „Tanz im August“.

Was sie zeigt? Aufgewärmtes Stückwerk, nichts sagende Posen. Wie sie es zeigt? Vibrierend, aufregend. Schattenhaft ist „Shadowman“, weil es im Detail immer nur den Abklatsch, die Hohlform, den Umriss liefert: von der selbstgenügsamen Kühle Merce Cunninghams, bei dem Michelson gelernt hat, vom Tanztheater als Umschlagplatz der Befindlichkeiten, vom Pop als Klischeesortiment. Und von Dietrich Steinbeck, der stumm in der Gastrolle des „Stadt bekannten Tanzkritikers“ vom Rang aus Tänzer und Tribüne überschaut.

Die Referenzen und Selbstreferenzen sind augenfällig, aber nicht Sinn stiftend, sonnenklar, aber nicht die Spur erhellend. Sie bleiben randständig wie die Tänzer, die den Raum nur markieren, indem sie ihn anzeigen, ihn kreuzen, queren und flankieren, ohne ihn mit knappen, sportgymnastisch konkreten Bewegungsbausteinen je zu besetzen. Rechts außen exerziert unaufhörlich ein fünfköpfiges Kinderbatallion die immergleiche Folge. Links lacht von einem Dia eine blonde Frau zwischen feuerroten Dahlien. Dazwischen ereignet sich eine Leerstelle, schlägt das Herz der Szene dort, wo Bewegung gerade nicht stattfindet. Michelsons choreografisches Raumgespür ist unerhört. All die Reste von Tanz- und Theaterchiffren fügen sich, aufgesplittert und lose neu arrangiert, auf schwer erklärliche Weise zu einer Erzählung, die betört. Herausragend.