Wie sich begegnen?

Der Choreograph Philipp Gehmacher über ‘Incubator’ und ‘good enough’

De Morgen 9 Apr 2005German

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Contextual note
This interview was first published in Dutch in a slightly altered version in the Flemish daily newspaper De Morgen. Translated into German by Martin Nachbar with the support of Mumbling Fish.

Einsamkeit, Berührung und Begegnung sind die Schlüsselwörter im jungen Oeuvre des österreichischen Choreograph Philipp Gehmacher. Sein formeller Expressionismus ist von einer störrischen Formensprache geprägt und in Melancholie getränkt. Seine Arbeit versucht, den Unterschieden zwischen Menschen in ihrem Zusammensein auf der Bühne gerecht zu werden. In dem doppeldeutigen Männerduett good enough kommen die Figuren noch nicht aus ihrer Isolation heraus, im neuen Kwartett Incubator gibt es dagegen Platz für komplexere soziale Verhältnisse. All dies gefasst in einer Recherche nach einfachen Gesten und was sie erzählen.

Obwohl besonders ausdrucksvoll und lesbar bezüglich der Form, bleibt es schwierig zu sagen, worüber Gehmachers Arbeit nun eigentlich genau geht. Seine Vorstellungen scheinen deshalb sehr persönlich. Dennoch spricht er fast wie ein Theaterwissenschaftler über seine Arbeit, wenn er seine choreographischen Grundsätze auseinander setzt. Er gibt zu, dass die Bedeutung von alldem vielleicht sein blinder Fleck ist, doch gleichzeitig schaudert ihn psychologisierendes Herumgerede. Auf der Schule schrieb er einmal eine Abhandlung Against Aboutness. Doch danach gefragt, seine Arbeit zu umschreiben, kann Gehmacher schnell drei Pfeiler benennen.

"Es gibt einen starken Fokus auf Körperlichkeit oder genauer: auf die Annahme, dass Körper sozusagen wählen können, auf strikt physische Art Dinge zu erzählen, zu zeigen und auszudrücken. Dabei halten sie sich nicht unbedingt an die Konventionen des bekannten Spektrums von Tanzstilen und Genres. Es gibt auch einen Fokus auf die Theatermitteln, wobei ich Licht, Ton und dergleichen immer mehr Autonomie gebe. Meine Arbeit mag im Vergleich mit vielen Vorstellungen, in denen das Spektakuläre einen zentralen Platz einnimmt, relativ reduziert und minimal aussehen. Doch ist nur die eine Seite der Medaille, es gibt noch eine Kehrseite." Zurück zum Anfang: wie sprechen wir über diese Suche nach der Kehrseite, nach dem, was durch die Arbeit spukt und uns anspricht, sich jedoch so schwierig in Worte übersetzten lässt?

Für das neue Projekt Incubator wollte Gehmacher die gebräuchlichen Produktionsweisen dehnen und sich viel Zeit für die Recherche nehmen. "Neben einer langen Vorbereitungszeit, um Themen und Material zu sammeln und zu verarbeiten, wurde das Projekt mit vier Etappen angesetzt," erzählt Gehmacher. "Dabei nehmen wir jedes Mal einen kleinen Monat Zeit, um den Arbeitsprozess wieder aufzunehmen, bestimmte Aspekte davon weiterzutreiben und zu verfeinern und so immer wieder zu einer neuen Vorstellung zu gelangen. Jeder Stopp hat seine eigene Vorgehensweise, die sich organisch aus dem Prozess ergibt und mit dem jeweiligen Ort umgeht. Nach Wien und Berlin treffen wir hier im Brüsseler Kaaitheater auf ein Theater mit Proszenium. Es macht keinen Sinn, hier eine Installation zu machen, vielmehr werden wir den Theateraspekt weiter ausformen."

Incubator sieht Gehmacher als einen vorläufigen Endpunkt in seinem Œuvre, an dem Themen, die ihn schon länger beschäftigen, voll ausgewachsen sind. "Einfach ausgedrückt, versuche ich seit Jahren zu begreifen, wie einsame Figuren in ihrer Körperlichkeit andere Menschen auf der Bühne treffen können. Was ist das Soziale? Wo beginnt es, eher noch als das Individuum, das Paar oder das Rudel? Was macht eine Gruppe oder eine Familie auf der Bühne aus? Manipulieren sich die Figuren gegenseitig, sehen sich gegenseitig als Objekte? Können sie diese Sichtweisen ändern? Das Soziale ist nicht einfach so physisch anwesend oder sichtbar, sondern geht Hand in Hand mit Berechnung und Manipulation, mit dem Spiel der Blicke und mit einer gewissen Brutalität. Jemand kommt rein und nimmt Raum ein, nimmt damit auch Raum von anderen weg und verändert so die ganze Szene. Das ist ein schwerwiegender Eingriff und hat mit Performativität zu tun, mit dem Beisteuern einer bestehenden Wirklichkeit."

Die Problematik der Begegnung spielt sich auch auf dem Niveau des Bewegungsmaterials selbst ab, das vor allem aus Armbewegungen besteht. "Meine Ausdrucksmittel und mein persönliches Bewegungsmaterial hatten immer ein schwieriges Verhältnis zur Interaktion. Darum ist die Entwicklung von Berührung in Incubator ein großer Schritt," sagt Gehmacher. "Und dabei handelt es sich nicht einfach um eine flüchtige Berührung, sondern um eine tatsächlich stattfindende Begegnung. Was bedeutet die Berührung eines Objektes, einer anderen Person? Was erfährt die Hand, die sich über die eigene Kinesphäre hinaus bewegt? Es liegen Welten zwischen einer greifenden Hand, die sich verbrennt, einer zeigenden Hand, einer Hand, die den Abstand zwischen Menschen misst und einer Hand, die jemanden berührt und tastet. Diese Transformation ist bedeutsam."

Im Sozialen steckt für Gehmacher auch eine ästhetische Frage, die mit dem Arbeitsprozess selbst verbunden ist. "Wenn man mit Menschen kommunizieren will, dann kann man die eigene Sprache und Gewohnheiten nicht mehr einfach so behalten. Persönlich bin ich dadurch mit Incubator an den Punkt und auf die Frage gekommen, ob ich als künstlerischer Leiter einer Gruppe in der Zukunft selber noch auf der Bühne stehen will oder nicht. Meine Arbeit ist immer stark mit meinem Organismus und meiner persönlichen Entwicklung verbunden, und ich will nicht ständig der Referenzpunkt auf der Bühne sein. In traditionellen Tanzkompanien werden Menschen oft als neutral und auswechselbar angesehen, als Instrumente, die die Ästhetik eine bestimmten Choreographen vertreten. Auf diese Art möchte ich nicht arbeiten, ich will genau sehen, wie unterschiedlich Menschen sein können. Die so genannte Gleichheit halte ich für erschöpft, so viel ist klar."

Die Wiederaufnahme des Männerduetts good enough (2001) in einer Version mit dem deutschen Theatermacher Raimund Hoghe stellt die Frage nach dem Unterschied noch schärfer. "Es geht um ein Duett, ich stehe also mit jemandem auf der Bühne, der ganz anders ist als ich. Auch ganz anders als die meisten Menschen. Wie wird das mit jemandem sein, der kein professionell ausgebildeter Tänzer ist? Mit jemandem aus einer anderen Generation? Durch seinen verwachsenen Rücken ist es schwierig, jemanden zu finden, der spezifischer, unterschiedlicher, idiosynkratischer, mehr "anders" ist als Raimund Hoghe. Dieser Punkt ist interessant, da ich in meiner Bewegungssprache oft Verdrehungen und Verformungen verwende, während der Rücken von Raimund schon immer verformt ist. Was muss er auf der Bühne dann noch zeigen? Und was muss ich für mich selber tun? Die neue Version konfrontiert mich viel stärker mit mir selbst und liefert mich an den Moment aus. Nach vier Jahren kommt good enough zu neuem Leben, aber vielmehr als mentale Partitur denn als choreographiertes Stück."

So kommt die persönliche Seite von Gehmachers Arbeit doch wieder ins Bild. "Neue Ideechen auszuprobieren interessiert mich eigentlich nicht. In der Art, in der ich arbeite oder mit meiner Arbeit lebe, geht es immer wieder um das Vertiefen des einen Fragenkatalogs in meinem Kopf, und dieser Katalog ist sehr stark meiner. Damit taucht auch die Frage auf, ob andere Menschen meinen Katalog überhaupt bringen können. Und was ihr Katalog ist, und wie der auf die Bretter gebracht werden kann? Darum braucht es, wie in Incubator, einen längeren Prozess, um zur Kehrseite der Dinge zu gelangen. Man muss ja doch begreifen, wie die anderen sind, was sie tun, wie sie sich ausdrücken. Was ist ihre persönliche Dramaturgie, was ihr Höhepunkt? Ist man derjenige, der schlägt, oder der, der geschlagen werden will? Oder ist der Höhepunkt zu schweigen und rauszugehen? Letztendlich läuft es immer auf dasselbe hinaus: wie kann man existentielle Fragen in Form umsetzen?