Was alle loben wird endlich bedroht

Auf einem ehemaligen Gutshof bei Berlin betreiben Holländer eine Theater-Akademie für Osteuropa – und keiner will bezahlen

1 Sep 2000German

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Contextual note
This article was written after intensive interviews with all those involved in the difficult process of welcoming MAPA in Berlin. The text was never published in full length. The Kuenstlerhof Buch has meanwhile been closed down completely.

Jemand hat den Pferdekopf wieder an die verwitterte Wand montiert. Schnaubend blickt er vor sich auf das verwaiste, kopfsteingepflasterte Areal herab, das rechts von einem etwas verkommenen Park hinter einer hohen Mauer, links von einer Scheune begrenzt ist. Geradeaus sind Schuppen, Garagen und ein altes Wohnhaus. Das von fabrikfrischen Klinkersteinen eingefasste Terrakotta-Tier selbst markiert den ehemaligen Pferdestall. Insgesamt zwölf Baulichkeiten bilden auf 35.000 m_ früheren Gutsgeländes weit draußen am Stadtrand von Berlin den Künstlerhof Buch. Im Kulturbetrieb der Hauptstadt kommt ihm mit seinen Ateliers, Werkstätten, Tonstudios und gelegentlichen Tanzproduktionen eher die Nebenrolle als ländliches Idyll zu. Im Sommer aber bevölkert dutzendweise der theatralische Nachwuchs den Künstlerhof, und zwar regelmäßig schon seit 1995. Initiator dieses alljährlichen Stelldicheins ist die niederländische «Moving Academy for Performing Arts», kurz MAPA genannt. Ein kleines (für manche auch ein großes) Wunder, denn eigentlich gibt es MAPA gar nicht, und wenn, dann erst seit 1993. So ähnlich wie das Internet ist MAPA vor allem ein lockeres Netzwerk zum Austausch von Ideen, Medien, Motivationen, nicht recht mit Händen zu greifen, irgendwie virtuell, unstet, mittel- und mittelpunktlos. Aber niemals untätig.

Die Theaterscheune des Künstlerhofes ist stickig und dunkel an diesem strahlenden Augustnachmittag. Wenige Dutzend Zuschauer sitzen auf einem improvisierten, fahrbaren Podest vor einer mobilen Bühnenkonstruktion. Auf der Spielfläche glimmen Öllämpchen. Jemand blättert in einem Buch, das sich immer wieder in eine Fledermaus verwandelt und mit den Seiten flattert. Aus dem Dunkel herausgeleuchtet erkennt man fratzenhafte Gesichter. Dann rollt ein halbtransparenter Paravent nach vorn, auf dem ein bizarrer 50er-Jahre-Film läuft, ein Exploitation-Streifen um FBI-Agenten, heimtückische Verräter und einen elektrischen Koffer. Eine arglose Hausfrau öffnet ihn – und geht in Licht auf. «Catastrophe is always just a strike away!», orakelt dazu der reißerische Kommentar. Dann kommen die lemurenhaften Wesen wieder auf die Spielfläche, lassen Wände und Projektionsschirm umherfahren, werden zu Salondamen, Psychiatriepatienten und skrupellosen Wissenschaftlern. Zu Electric Boogie und Tinnitus-Musik stellen sie in «The man who loved Nabisco Crackers» mit professioneller Schaltkreisästhetik das genialische Scheitern von Nicola Tesla dar, seines Zeichens Erfinder des Hochspannungsgenerators (und damit Wegbereiter des elektrischen Stuhls), dar. Die fünf Akteure sind zwischen 17 und 30 Jahre alt, stammen aus der Slowakei, aus Tschechien, Rumänien und Chile, und sie haben unter der Leitung von Michael Helmerhorst die 30-minütige Sequenz in fünf Wochen erarbeitet. Neben Dramaturgie und Darstellung haben sie die Projektionstechnik betreut, die Aufbauten konstruiert, die Kostüme beschafft, und in der Pause verkaufen sie sogar noch kaltes Bier.

Auch die zwei weiteren Gruppenproduktionen dieser Sommer-Akademie, die ÖPNV-Studie für drei Personen «Übergang» von Paola Aguilera und die hysterisierte E.T.A. Hoffmann-Paraphrase «Der Sandmann», zu der Spielleiterin Karina Holla fünf Darsteller in maschinaler Puppenästhetik überraschend fein zu charakterisieren versteht, sind unter den gleichen Bedingungen entstanden: ein erfahrener Regisseur, ein technisches Betreuerteam, fünf Wochen Zeitvorgabe und junge Darsteller aus diversen Ländern. Im Frühjahr waren sie bei Auditionsworkshops in Bratislava, Budapest, Bukarest, Prag, Berlin und Burgas (Bulgarien) ausgewählt worden, nach der Arbeitsphase in Berlin touren alle Teams als «Theaterkarawane» von West nach Ost und zurück. Spielorte sind dann nach Berlin das märkische Brandenburg, Groningen in den Niederlanden, Brno, Debrecen, Bratislava, Wien und Utrecht – im Zeitraum von gut zwei Wochen.

Das alles gehört ausdrücklich zum Konzept. MAPA ist nämlich eine ganz eigenartige Synthese aus in den 70er und 80er Jahren wurzelnden Formen des freien Theaterbetriebes, der autonomen Ausbildungsgänge jenseits staatlicher Schauspieldomänen, dazu noch der niederländischen Mimebewegung sowie eines leicht missionarisch angehauchten Kollektivprogramms ‹Hilfe zur Selbsthilfe›; in diesem Fall gemünzt auf Osteuropa. Ide van Heiningen, niederländischer Regisseur, Kulturmanager und erfahrenes Mitglied in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien, überdies seit langem Kenner der osteuropäischen Theaterszene, streckte gleich nach dem Wendewinter 1989/90 seine Fühler in die zerfallenden und desorientierten Gesellschaften der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten aus. Um dem dortigen kulturellen Schlagfluß zu begegnen, um gegen den weinerlichen Ruf nach mehr Staat anzugehen und um jungen Künstlern bei der Suche nach einer neuen, sozusagen posttotalitären (und auch nonverbalen) Theatersprache und -praxis zu helfen, gründete er 1993 mit ein paar Gleichgesinnten während eines Festivals in Kroatien die Moving Academy for Performing Arts. Mit einem Sattelschlepper, der alles benötigte Material, darunter auch ein mobiles Büro, enthält, zieht man seither durch die Lande, hält Kurse ab, betreut Projekte, unterrichtet und unterweist in allen relevanten Fächern, von Schauspielmethodik bis Kulturmanagement, von Beleuchtungssoftware bis Verhandlungsführung.

Für jedes Thema gibt es mittlerweile eine curriculare «Materialmappe». Langjährig geschulte Mitarbeiter, die so genannten Coaches, koordinieren in den jeweiligen Staaten und Städten die organisatorische und künstlerische Arbeit. Ziel ist es, jungen Theaterschaffenden Mittel und Wege zu zeigen, Projekte ohne staatliche Trägerschaft in Eigenregie und möglichst auch mit finanzieller Selbstversorgung durchzuführen. Pragmatismus bis hin zur Bescheidung ist dabei alles und gehört ebenfalls zum Grundkonzept. Die Arbeit richtet sich nach mehreren Leitsätzen: Selbständigkeit (self-reliance), übersichtliche Strukturen (small-scale structure), keine Spezialisierung (allround entrepreneurship), kreative Problemlösungsstrategien (no ready-made solution) sowie Vernetzung (creating a network). Das Ganze fügt sich zu einer Art fortlaufender Ausbildung, die mit der Diversifizierung ihrer Lerninhalte zunehmende Professionalisierung anstrebt. Schon träumt man von zweijährigen Studiengängen, langfristigen Themenblöcken des künstlerischen Austausches und einem größeren, eigenen Areal (z. B. der Künstlerhof in Buch).

Auch werden «Seh-Schulen» veranstaltet, etwa das Experiment «Sender – Receiver – Observer»: Ausgewählte MAPA-Künstler legen Bühnenbildnern und Regisseuren eine knappe Tanz- oder Theatersequenz vor. In einwöchiger Klausur (dieses Jahr ebenfalls in Buch) entsteht dann aus dieser szenisch «nackten» eine «bekleidete» Version. Beide wurden unterschiedlichen Publikumsarten vorgestellt: eine Schulklasse, ein so genanntes Expertenpublikum aus Kritikern und Veranstaltern, schließlich die «breite Öffentlichkeit». Was indessen nach betulicher Theaterpädagogik klingt, erwies sich in der effizienten Arbeitsweise und den professionellen Ergebnissen als aufschlussreiches Unterfangen. Eingedenk der unterschiedlichen Publikumsreaktionen und Wahrnehmungsschwerpunkte konstruieren einzelne Teams jetzt längere Produktionen aus dem Experiment.

Bisher konnte der quirlige Ide van Heiningen, treibende Kraft und guter Geist hinter dieser frei schwebenden Ausbildungsakademie, alle finanziellen, strukturellen und institutionellen Forderungen durchboxen, ob in Den Haag, Brüssel oder selbst im notorisch klammen Berlin. Hier gab es ein paar zehntausend D-Mark, dort hunderttausend Gulden oder eine satte Eurosumme. Und als die Theater des Ostens Mitte der 90er Jahre mangelnde technische Ausstattung beklagten, rief van Heiningen die Initiative «Licht für den Osten» ins Leben und sammelte in niederländischen Theatern, Kulturhäusern und Freizeitzentren Sachspenden in Form von Scheinwerfern, Beleuchtungsbrücken, Kabeln und Farbfiltern, von denen einige sogar in Berlin gelandet sein sollen... Um in sozialen Härtefällen die kostenlose Teilnahme an Fortbildungsprogrammen zu ermöglichen, wurde überdies ein Stipendienfonds gegründet.

Mittlerweile wurden namhafte Theatereinrichtungen wie etwa die Amsterdamer School of New Dance Development (spätestens seit Sasha Waltz’ steiler Erfolgskarriere als Kaderschmiede innovativer Bewegungskunst bekannt) nominelle Partner dieses «Network of Talent». Doch sind künstlerische Resultate eher selten zu sehen. MAPA ist zu dezentral und zu ausbildungsorientiert, um sich auch noch ein eigenes «künstlerisches Profil» zuzulegen. So müssen die MAPA-Macher bei staatlichen oder offiziösen Förderstellen immer wieder aufs Neue antichambrieren. Graswurzelarbeit strahlt eben kaum noch Sponsorenglanz aus. Überdies sind nach den niederländischen Regularien – und von hier kamen bisher die meisten Mittel – die maximalen zwei Vergaberunden inzwischen ausgereizt. In Brüssel wurde jüngst bei einer Evaluierungssitzung schlicht «Desinteresse» an weiterer Unterstützung signalisiert. Während sich Berlin, das immerhin die Sommerakademien durch Sachleistung unterstützt, monetäre Freigebigkeit schon lange nicht mehr leisten kann.

So droht bei der Moving Academy for Performing Arts, eine Idee, die alle gutheißen, für die sich aber keiner verantwortlich fühlen mag, an der Finanzierung alles zu scheitern. Aus dem Osten können die Mittel, wenn überhaupt, nur äußerst spärlich fließen. Die westliche Sympathisantenszene, darunter das prominente Theaterinstituut Nederland, das Grand Theatre in Groningen und die niederländische Prins Bernhard Stichting, trocknet allmählich aus. Im Übrigen hat der Bereich Körpertheater ohnehin zwei Hauptfeinde: das Theater und den Tanz. Zwischen beiden Fronten werden transversale Theateransätze wie von MAPA meistens aufgerieben. Zwar lässt sich Ide van Heiningen nicht leicht unterkriegen, und die osteuropäischen Teilnehmer sind Entbehrungen ohnehin gewöhnt. Doch bläst der kulturpolitische wie finanzielle Zeitgeist dem Projekt MAPA frostig wie nie ins Gesicht.

contact MAPA: Herengracht 174, 1016 BR Amsterdam, Tel. +31 / 20 / 4226623 www.mapa.nl reference: Moving minds – a network of talent. Report on the mission and work of the Moving Academy for Performing Arts (MAPA). Jan Middendorp (ed.), Amsterdam 1999