Einwurf: Wie modern darf Klassik sein?

Publikumsgespräch zum Festival TanzTheaterInternational in Hannover

7 Sep 2005German

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Contextual note
introductory notes to a public discussion organised within the festival TanzTheaterInternational, by Christiane Winter, in Hannover, Germany, September 2005. The talk was on 7 September, 18 hrs, at the Hannover School of Music and Drama. The author has prepared and moderated the event as part of the festival's focus on "Classic/Contemporary"

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie sehr herzlich zu diesem Gespräch, das im Programm als "EINWURF" bezeichnet ist. Das bedeutet ja, wir wollen und sollen heute nicht letzte Antworten finden, sondern eher nützliche Fragen stellen.

Das diesjährige, 21. Festival "Tanz Theater International" hat sich den Sinnspruch "Dreh Dich" gegeben.

Und es stellt in einem kleinen Schwerpunkt zeitgenössische Annäherungen an klassische Werke vor. Beide Positionen sind, so scheint es mir, in gleicher Weise Aufträge auch an uns, das Publikum:

Wir müssen bereit sein, unsere Perspektiven zu wechseln und neue Blickrichtungen auszuhalten, auch wenn wir dabei unseren jeweiligen Standort beibehalten können. Man dreht sich ja meist um die eigene Achse, wenn man sich dreht. Diese Leistung zählt sogar zu den glanzstücken der klassischen Tanztechnik: die Pirouette. Zum anderen ist schon die Frage nach dem Wesen des Klassischen, nach dem, was es ausmacht und wie und wo es sich zeigt, eine sehr komplexe und schwierige.

So daß wir als Zuschauer also die Aufgabe haben, uns um die eigene Achse zu drehen und gleichzeitig die Gesamtheit im Blick zu behalten.

Es gilt, die Klassik gegen das Zeitgenössische zu blenden und beide gleichzeitig zu bedenken und zu verstehen. Das ist einigermaßen viel verlangt, und man muß aufpassen, dabei keinen Drehwurm zu bekommen! Das unterscheidet einen Betrachter auch von einer Ballerina, die ja immer nur einen einzigen Punkt fixieren darf, um ihr Gleichgewicht ‚auf der Spitze‘ zu halten und den Taumel im Zaum zu halten.

Auch in dieser Hinsicht kann dieser EINWURF vielleicht Anlaß sein, sich zu orientieren und ein wenig zu klären, was überhaupt an Fragen aufgetaucht ist.

Ich beginne, wenn Sie erlauben, mit einigen Anmerkungen aus meiner Warte, wobei ich gleich dazu sagen möchte, daß ich fast keine der Positionen, die Christiane Winter für uns nach Hannover eingeladen hat, vorher kannte, auch wenn mir einige der Künstler durchaus vertraut sind.

Es ist im Kontext des zeitgenössischen Tanzes – sicher eine ebenso unbestimmte Angabe wie "Klassik" – eine recht neue Entwicklung, daß die Künstler sich mit traditionellen Vorlagen befassen, seien es Choreographien oder Musikstücke. Weder die akademische Technik des Tanzes im Ballett noch die großen musikalischen Partituren waren offenbar von Interesse. Das hatte dem zeitgenössischen Tanz bisweilen den Vorwurf eingebracht, unkünstlerisch, gegenwartsversessen und konzeptuell zu sein. Ob diese Vorwürfe zutreffen, wäre zu diskutieren. Aber tatsächlich gibt es heute ein neues Interesse an der Geschichte des eigenen Faches, wenn man das so sagen darf.

Choreographen werden sich zunehmend der Tatsache bewußt, dass auch sie eine spezifische Geschichte haben, dass ihre Werke nicht an der Folie des Vergangenen vorbei gelesen und verstanden werden können, daß Positionen aus früheren Phasen der Tanzgeschichte nicht ohne weiteres als belanglos gelten dürfen für das, was Künstler heute tun und treiben.

Allerdings gibt es einen großen Unterschied: Wenn Choreographen heute mit klassischen Stoffen und Vorlagen umgehen, müssen sie das auf eine gleichsam archäologische Art und Weise tun. Sie müssen sich durch die Schichten alles dessen hindurchgraben, was sich an Rezeptionsgeschichte, an Stilentwicklung, an Kommerzialisierung, kurz an gesellschaftlicher Veränderung in diese Werke eingesenkt und eingeschrieben hat.

Klassik heute ist als Gegenstand "relevanter" künstlerischer Praxis kaum noch vorstellbar, ohne eine kritische oder jedenfalls reflexive, eine nachdenkliche Distanz einzunehmen. (Sie merken, wie schwer es ist, diese Eigenschaft zeitgenössicher künstlerischer Praxis angemessen zu benennen; "relevant" sind in ihrer Weise auch alle anderen Darbietungsformen.)

Natürlich gibt es nach wie vor die Klassikpflege im Repertoire großer Institutionen und Bühnen, natürlich gibt es noch Aufführungen des "Schwanensee" von erlesener Qualität und Raffinesse. Aber sie haben in der übergroßen Mehrzahl der Fälle ein ganz anderes Anliegen und eine ganz andere Intention als die Werke der zeitgenössischen, der "modernen" Bühnenkunst. Sie wollen (und müssen) bewahren. Sie pflegen einen Bestand, eine Technik, ein Können, das im Sinne des Musealen die Unveränderlichkeit als ihr Ideal hat. So wie im Museum Kunstwerke möglichst unbeschadet aufbewahrt werden und man bemüht ist, die Spuren der Zeit von ihnen fernzuhalten, so müssen auch die Werke des Balletts mit einem großen künstlerischen und technischen Aufwand "in Stand gehalten" werden. Klassikerpflege ist eine unbestrittene Notwendigkeit. Und vielleicht ist dieser parallele Bestand an historischer und zeitnaher Aufführungsform sogar eine Besonderheit der Sparte Tanz. Aber ich glaube, die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Klassischen ist eine ebenso unbestreitbare Notwendigkeit der aktuellen Kultur.

In dem ebenso provokanten wie tiefsinnigen Stück "Frans Poelstra, his dramaturg and Bach", das vorgestern und gestern im Ballhofzwei gespielt wurde, heißt das so: "Warum sollen wir heute noch auf der Bühne tanzen?". Und man sieht einen Videofilm von Jugendlichen, die MTV-Sketche einstudieren und Fußball spielen und damit eine Art Spontanchoreographie auf der Straße aufführen. Warum soll man und darf man demgegenüber "Bühnentanz" veranstalten, noch dazu "zeitgenössischen künstlerischen Bühnentanz"? Wie legitimiert, wie begründet er sich?

Das Klassische, auch das lernen wir bei Frans Poelstra und seinem Kollegen Robert Steijn, ist die Verheißung des Paradieses. Das Klassische steht für eine Welt der Vollkommenheit, eine utopische Sphäre der Vollendung, in der es eben gerade keine Zweifel mehr gibt, in der letzte Antworten gegeben und ewiges Wohlgefallen vorprogrammiert sind.

Gerade im klassischen Tanz ist diese paradiesische Vollkommenheit der Form und der Darbietung ja geradezu das Kernthema. Was die Ballerina vermag – die Überwindung der eigenen Körperschwere und die Reproduktion von im Vorfeld festgelegten Formen der Geometrie, also die Verwirklichung eines jenseits von körperlichem Vollzug geborenen und entwickelten Systems der Anmut.

Sie wissen, daß am Anfang allen akademischen Tanzes das Schreiben steht und stand, die Aufzeichnung und Festlegung von Schrittfolgen. Was also die Ballerina vorlebt, ist der andauernde Kampf des Wirklichen gegen das Utopische. Der eigene Körper muß solange trainiert werden, bis er dem Ideal entspricht. Aber jeder, der einmal selbst getanzt hat, weiß, wie nahezu unmöglich das ist. Diese ewige Konfrontierung des Körpers und seiner Möglichkeiten mit dem Ideal des Konzepts und der Vorstellung ist eines der Themen, welche Raimund Hoghe in seiner Befassung mit dem "Schwanensee" herausstreicht. Sein "Swan Lake, 4 Acts" war am Samstag in der Orangerie zu sehen. Wenn er mit seinem "unförmigen" und "entstellten" Körper am Boden kniend die Posen des Corps de ballet nachahmt, wird genau dieses Unerreichte und Unerreichbare thematisiert, welches der klassischen Tanztechnik und -ästhetik eingeschrieben ist. Was bei Hoghe der offensichtliche körperliche Makel, ist sonst die Differenz zwischen dem geometrischen Ideal und der tatsächlichen, der physischen Umsetzung. Jede Attitüde, wir wissen es, ist immer nur der Versuch der Annäherung an die Geometrie als beste aller Welten ... Das Tänzerische verheißt dabei immer wieder aufs Neue einen Aufbruch in jenes Reich des Vollkommenen, und man wartet in jeder Aufführung darauf, daß dieser Aufbruch gelingt. Aber man wartet eben immer auch auf das Gegenteil, auf das Scheitern. Schließlich wissen wir, wie unvollkommen die Welt eingerichtet ist ...

In diesem dialektischen Verhältnis aus Formvollendung und schmerzlichem Scheitern offenbart sich vielleicht am markantesten die ganze Komplexität klassischer Kunstideale. Ihre Vollendung entsteht nur durch die Angst vor dem jederzeit möglichen Versagen.

Dieses Potential zur Utopie, diese Differenz zwischen dem Vollkommenen der Klassik und dem mangelhaften Irdischen ist, neben der Erzählhandlung, der großen, ins Persönliche gewendeten Liebesgeschichte, der wichtigste Kern in Hoghes "Swan Lake, 4 Acts". Das Vollkommene entsteht in der Erinnerung, in der Erwartung, im Dialog aus Persönlichem und Objektivem, aus technischer Fertigkeit und inhaltlicher Aufladung, aus Bühnengeschichte und Lebensgeschichte. Aber dieses Verhältnis immer neu auszutarieren, zu bestimmen, sich anzueignen und damit souverän umzugehen – das ist der Auftrag einer Auseinandersetzung mit der Klassik aus zeitgenössischer Sicht.

Man könnte solche Fragen auch für die anderen Stücke formulieren, für Chouinards "Rite of Spring", dem Eröffnungsstück des Festivals. Denn so körperlich und fraglos physisch es daherkommt, es beginnt doch mit einem Akt des Schreibens. In einer etwa 10-minütigen Sequenz hört man nur eine Geräuschcollage von einem Stift, der über Papier schabt. Es wird die Materialität des Schreibens beschworen. Aber damit ist auch, dramaturgisch, die ganze Kluft beleuchtet, die sich zwischen der Sprachkultur mit ihren Abstraktionen und Konzeptualisierungen und der Berufung auf den Körper als desjenigen Mediums auftut, das eben diese Abstraktionen zu überwinden in der Lage sein soll. In Wirklichkeit aber sind Tanz-Körper immer schon ein Sekundäreffekt dieses Geschriebenen. Sie sind in ihrer Materialität zwar lebendig, ebenso wie das Schreiben ein lebendiger Akt, ein körperlicher Vollzug ist; aber sie sind hinterher, in ihrer Aufführung, in ihrem Selbstvollzug, bereits gebannt durch die Erwartungen, Vorgaben, Kanons, Regelwerke etc., welche das Klassische immer bereit hält.

Natürlich trifft diese Problematik auch zu auf "Frans Poelstra, his dramaturg and Bach". Gerade hier zieht sich die Frage durch das Stück, wie unbefangen man mit dem Klassischen als dem Ideal der Kunst noch umgehen darf, wie man ihm huldigen kann, ohne es bloß nachzuahmen, und ob nicht der einzige Weg, der nach 200 Jahren Aufklärung noch offensteht, der Umweg um die Welt ist, um durch die Hintertür wieder ins Paradies der Eindeutigkeit und des absolut Stimmigen zu gelangen. "Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist", läßt Kleist in seiner Schrift "Über das Marionettentheater" sagen.

Steijn erklärt zwischendurch: "Bachs Musik ist deswegen so vollkommen, so paradiesisch, weil alles zur rechten Zeit in der richtigen Weise gesetzt ist." Es ist diese Vollendung, deren Schönheit man irgendwie einfangen und bergen will. Das kann aber durch Pathos nicht geschehen, nicht mehr, nicht mehr heute.

Aber wie dann? Solche Verlustrhetorik einer in die Krise geratenen Aufklärung wenden Poelstra und Steijn ins Unterhaltsame, ins "Bühnentaugliche", aber eben nicht ins Oberflächliche.

Die Aneignung des Klassischen kann nicht mehr durch bloßen Nachvollzug erfolgen, sondern muß sich aus der Zeit, aus der Fülle des Geschehenen, aus einer Archäologie der Gegenwart heraus einstellen. Es ist der mühsame Weg von der bürgerlichen Seinswirklichkeit über die konsumgesellschaftliche Konditionierung zurück zur idealistischen Philosophie und zum Künstlergottestum. All das gehört heute zum Klassischen dazu.

Aber ist es auch das Klassische? Ist es noch das Klassische? Kann es demnach eine zeitgenössische Klassik geben?

"Wir verstehen, daß es nicht leicht ist, Publikum zu sein", sagt Poelstra gegen Ende seines Stücks. Er hat zweifellos recht.

Aber dennoch gehen wir immer wieder hin.

Vielleicht weil der zeitgenössische Tanz es einem gerade erlaubt, das Verhältnis von Vollendung und Versagung, von Erhabenheit und Banalität, von Persönlichem und Gesellschaftlichem immer neu zu erleben.