Ist Horst Tappert wirklich Derrick?

Promofestival gibt zum zweiten Mal ein gutes Bild von dem, was Berlin bewegt/was sich in Berlin bewegt

De Morgen 21 Dec 2004German

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Contextual note
This text was published originally in Dutch in the Flemish newspaper De Morgen and translated into German by Martin Nachbar with the support of Tanzfabrik Berlin.

Seit zwei Jahren sind Berliner Choreographen nicht nur auffallend oft auf unseren Bühnen zu sehen, die Berliner Tanz- und Performanceszene ist momentan auch eine der lebendigsten in Europa. Kaum gestört durch viel Geschichte oder starke Institutionen sieht eine stark wachsende freie Szene trotz Mangel an Fördergeldern, Ausbildungsmöglichkeiten und qualitätsvoller Kritik nachhaltige Entwicklungschancen. Obschon das expressionistische Tanztheater nach wie vor festen Boden unter den Füßen hat, lassen sich junge Macher vor allem mit Performance und konzeptuellen Fragestellungen ein. Die zweite Ausgabe des Promotionfestivals „Tanz Made in Berlin“ hat nut ein Bild dieser Produktion geboten, wenn auch mit viel pril und mittelmäßiger Arbeit.

Ein Berliner Trumpf ist der intensive Austausch mit Osteuropa, das sich im Festival mit einer Reihe von Zusammarbeiten mit Estischen Choreogaphen niederschlägt. Die interessanteste davon war „Out of Functions“ von Mart Kangro, der mit der Toolbox und anderen Überbleibseln von Thomas Lehmens neuestem Projekt „Funktionen“ ans Werk ging. Auf die etwas vage Kritik des Autorenbegriffs in Lehmens Werk hat Kangro zwar keine Antwort, dafür aber auf den distanzierten, gleichzeitig ironischen Umgang mit „Tanz“ im Berliner Konzeptualismus. Lehmen will die Außenwelt durch „soziologische“ Untersuchung von Kommunikation und Rollenspiel der Menschen in die hermetische schwarze Theaterbox hinein bringen (wobei er nichtsdestotrotz bei einer ausgesprochenen Selbstbespiegelung landet).

In einem kahlen, weißen Raum demonstrieren Kangro, Krõõt Juurak and Manuel Pelmus einige Readymadebewegungen, verbunden mit ihren „ersten Erinnerungen“ oder mit bestimmten Aktivitäten wie z.B. Sport. Ob sich dabei der initiale Kontext oder der „Mensch hinter dem Performer“ zeigt, bleibt die Frage, doch wird sehr wohl deutlich, wie Erinnerung einer eindeutigen Vorstellung der Dinge entgegenwirkt. So malt Juurak mit einem vertikalen Passe-Vite Kartoffeln und Fleisch in die Suppe; ein eigenartiges Küchenmodell, das sie anscheinend aus einer frühen Theatererinnerung heraus kopierte. Zwischen die durchdachten Propositionen bringt der Rumäne Pelmus hier und da knochetrockene virtuose Bewegungen an, jenseits von Ironie und Zweifel und auf der Suche nach der Elastizität des strikten Konzeptualismus.

In seinem neuen Solo „Verdeckte Ermittlung“ fängt auch Martin Nachbar mit einer virtuosen Bewegungssequenz an, gleichsam als Auftakt für eine vernünftige Choreographie von Erzählungen und Denkfiguren: ein nervöser Tanz im Halbdunkel, der nach Aufklärung verlangt. Als ein unverfälschter Derrick packt er die Untersuchungen am Tatort an, spürt Bewegungen nach, die kurz vorher stattfanden, stellt Phantombilder eines tanzenen Körpers zusammen. Danach fragt er einen Zeugen, dessen Erzählung regelgerecht durch positive Körpersprache und beruhigendes „Mhm, mhm“ unterstützt wird. Was den Zeugen wiederum nicht davon abhält, ein halluzinatorisches Inferno im Theater zu beschreiben.

Dabei vermischen sich die Interventionen mit den Spuren im Raum, ihren Beschreibungen und Rekonstruktionen, ihrer Bedeutung. Als ob sich Nachbar in einem Geisterhaus bewegt, das von allerhand eigenartigen Anwesenheiten bewohnt wird. Auch der Zuschauer irrt darin umher als eine Art ultimativer Zeuge, der sieht, wo Spuren zusammenkommen oder die Verstrickungen von bestimmten Personen offenbaren. Am Ende liegt auf der Bühen eine unbenutzte Pistole: Was gibt es eigentlich zu lösen? Gab es überhaupt ein Verbrechen? Letztlich verkörpert Nachbar verschiedene Rollen auch, um seinem eigenen blinden Fleck nachjagen zu können und auszumachen, wer der echte Nachbar ist und wer der Performer. Sind Stephan Derrick und Horst Tappert letztlich wirklich ein und derselbe?

Durch die spielerische Dramaturgie einer forensischen Untersuchung wirft Nachbar zahlreiche Fragen über die Identität des Performers auf. Und über die des Zuschauers als Zeuge und seiner Erinnerungen, Projektionen und mentalen Rekonstruktionen unterworfenen Wahrnehmung von Tanz. Das macht aus „Verdeckte Ermittlung“ konzeptuelle Kunst im weitesten Sinne des Wortes, zudem Nachbars außerordentliches Können als Performer zur Subtilität der Vorstellung beiträgt.