Tanz/Kunst

Eine vorläufige Bilanz des Festivals "Westend04" in Leipzig

1 May 2004German

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Contextual note
This text is based on notes and working-papers composed during the Westend04 festival, in which the Leipzig Dance Archives - for which I am working at present (summer 2004) - were partly involved. I chose not to offer the material to any other publishing medium as i wanted to keep organisation/participation as strictly seperated as possible from criticising or public (commercial) comment. However, as I believe the festival showed important new ways of enhancing dance culture, I felt the material should be made accessible to those who are interested.

Zum zweiten Mal fand 2004, vom 29. April bis zum 9. Mai, das Festival “Westend 04” statt. Es geht zurück auf eine Zusammenarbeit der in den westlichen Leipziger Stadtteilen gelegenen Spielstätten Lofft und Schaubühne Lindenfels, wurde kuratiert von Heike Albrecht und erwies sich als ungewöhnlich dichte Plattform für zahlreiche Spielarten darstellender Kunst. Neben den elf geladenen Produktionen gab es ein umfangreiches Programm an site specific work, Videoinstallationen und Diskussionen, dazu eine Tanzfilmreihe und Workshops sowie eine Retrospektive mit Yvonne Rainer-Filmen. Zudem hatten sich in einer in dieser Form neuen Vernetzung das Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, das Tanzarchiv Leipzig e. V. und die Hochschule für Graphik und Buchkunst Leipzig darum bemüht, dem Festival eine diskursive Verankerung zu geben und die Initiative “Westend 04” in den größeren Kontext zeitgenössischer Performance-Praktiken und Strukturen der Kulturarbeit zu stellen.

 

Von Anfang an stand fest, daß bestimmte Format-Erwartungen nicht erfüllt werden würden und sollten. Damit setzte sich “Westend 04” mehrfachen Gefahren hinsichtlich der Öffentlichkeitswirksamkeit und der Medienpräsenz aus, konnte aber zugleich eine verstärkte Binnenwirkung verzeichnen. Die Tendenz gerade in der zeitgenössischen Tanzszene, von der bloßen Produkt-Präsentation wegzugehen, um Entstehungszusammenhänge, Debatten, Kontexte und hermeneutische Verflüssigung zu erreichen, war hier besonders deutlich zu beobachten. Aufgrund der starken lokalen Verankerung und der Bandbreite der eingeladenen Künstler wurde das Prozesshafte besonders transparent.

Diese Durchsichtigkeit und das Engagement sowohl in der Konzeption wie in der Durchführung der zehntägigen Veranstaltungsreihe, dazu die Sorgfalt, mit der Programmkommunikation, Gästebetreuung und Rahmenbedingungen gestaltet waren, verwiesen auf die Möglichkeit eines eigenständigen, nicht völlig konsum-unabhängigen, aber doch zumindest der schieren Verwertungslogik in weiten Teilen widerstehenden Zuschnitts. Damit stand die Frage nach dem Umgang mit Strukturen der Rezepti-on, der Präsentation, der Kommunikation und der Produktion von Tanz/Kunst als ein wichtiges Motto über der Veranstaltungsreihe.

Am 8. Mai 2004 um 16 Uhr hatte das Tanzarchiv Leipzig daher vier auf unterschiedliche Weise von Strukturen Betroffene und mit Strukturen Arbeitende zu einem öffentlichen Gespräch über “Strukturen im Tanz” eingeladen. Im Einladungstext zu dieser Begegnung hieß es:

“Tanz fällt nicht vom Himmel. Zwar zählt es zu den beliebtesten Denkfiguren der Kulturgeschichte, Tanz sei die älteste und ursprünglichste und daher die einzig universelle menschliche Ausdrucksform. Dennoch kann es Tanz immer nur dann und dort gegeben, wo getanzt wird. Und die-ses Tanzen unterliegt immer bestimmten Vorgaben. / Diese Vorgaben können körperlicher Art sein — Tanz für gesunde, junge, geschulte Körper —, sie können politischer oder religiöser Art sein — Tanzverbote, kultische Tänze —, sie können finanzieller und medialer Art sein — welcher Tanz wird gefördert, über welchen Tanz wird berichtet, und wo? / Alle diese und noch viele weitere, vermeintlich äußere Merkmale können mit dem Begriff ‚Strukturen‘ zusammengefaßt werden.” Diese Strukturen bilden eine Art Meta-Ebene oder zweite Ebene der künstlerischen und kuratorischen Arbeit. Es ist die Ebene der Macht. Macht kann einerseits verhindern (das ist ihre häufigste institutionelle Erscheinungsweise), sie kann aber auch (in den selteneren Fällen) Bewegung bewirken. Gerade im Tanz heißt das: im Bestehenden Formen der Bewegung finden. Damit soll auch im übertragenen Sinne eine Bewegung in den Strukturen des Denkens, der Wahrnehmung und der Erwartung gemeint sein. So gilt im freien Produzieren, daß Strukturen ebenso wie Inhalte selbst bestimmt werden sollen (auch wenn sie niemals “frei” sind), anstatt weitgehend durch äußere Bedingungen wie Abonnenten, Besucherorganisationen, Marktbedingugnen oder kulturpolitische Prämissen beeinflußt zu sein.

Denn es gilt der Grundsatz: Strukturen sind niemals unschuldig. Aber es ist nicht immer leicht, ihrem Wirken auf die Schliche zu kommen. Zwar tun sie immer harmlos: Sie blicken auf sich selbst und geben die Gewähr, sich auf Unhintergehbarkeiten berufen zu können. Strukturen stehen in weiten Teilen auch für die ethische Figur des Befehlsnotstands: Man kann sich den Erfordernissen des Faktischen nicht entziehen und muß daher bestimmte Handlungen ausführen. Diese Kategorie des “Soldatischen” (die René Reinhardt bei der Programm-Pressekonferenz, Heiner Müller paraphrasierend, aufrief), ist als Kurzformel eines solchen Gehorsams vor dem anscheinend Unausweichlichen zu verstehen. Eines kommt zum anderen, und irgendwann ist ein Augenblick erreicht, wo man feststellt: “Das habe ich nicht gewollt.” Aber wie bemerkt man diesen Punkt des Umschlagens, den Moment des Selbst-Verlustes? Und wie kann man sich seinem Sog widersetzen? Daß angesichts solcher zweifellos maximalisierter Sichtweisen ein Umgang mit zeitgenössischem Tanz und den üblichen Formaten seiner Präsentation durchaus die Gefilde des Politischen streifen kann, scheint also offenkundig. Die teils heftigen Debatten und auch fundiert formulierten Momente der Ablehnung dessen, was ein Festival wie Westend 04 in der Vielfalt der Stile und in der Radikalität der Ästhetiken dem Zuschauer zumutet, legt davon klares Zeugnis ab.

Gerade dadurch aber werden die Notwendigkeit und auch der Nutzen eines solchen Forums der Begegnung, allen strukturellen, institutionellen und finanziellen Schwierigkeiten zum Trotz, nachhaltig deutlich. Denn neben vielem Anderen sind mit einer solchen Setzung auch die Wahrnehmungs- und Wesenskategorien in Zweifel gezogen und der Diskussion ausgesetzt, die sonst als fraglos gelten (Tanz als Musik und Rhythmus; Tanz als Bewegung; Tanz als Livepräsenz; Tanz als Kommunikati-onsform; Tanz als Kunst versus Tanz als Lebensgefühl). Und immer wird die Frage bleiben: Wem “gehört” welcher Tanz und warum?

Ist es also Aufgabe des Tanzes (und anderer kultureller Hervorbringungen), dem Zuschauer entge-genzueilen und ihn bei der Hand zu nehmen, oder liegt die Radikalität des Tanzes – und zwar bis heute, trotz aller vermeintlich ins Leere laufenden Provokationspotentiale – darin, diese Erwartungen eben gerade nicht zu erfüllen? Könnte es ein “Auftrag” sein, mit der Erschütterung solcher Erwar-tungspositionen einen Prozeß anzustoßen (einen reflektiven, einen kritischen, einen aufklärerischen ...)?

Daß es eine verbreitete “Angst” vor dem Theoretischen, vor der intellektuellen Aufladung künstleri-scher Praxis gibt, daß das schwierige oder gar unmögliche “Verstehen” mancher Tanzaufführungen zu einer Ablehnung des Genres und zu einer Flucht vor der darin spezifisch ausgestalteten kommunikati-ven Situation insgesamt führt, ist zu bedenken, jedoch nicht a priori Aufruf zur Änderung. Der Tanz darf, wie jeder andere Äußerung auch, für sich beanspruchen, seine Mittel nach Belieben einzusetzen und eine bestimmte Rezeptionsweise zu verlangen. Er darf sich hinterher zwar nicht beschweren, wenn diesem Begehren nicht stattgegeben wird. Umgekehrt aber muß der Praxis die Offenheit zugestanden bleiben, solche Genrezuordnungen immer wieder in Zweifel zu ziehen. In diesem Sinne hat “Westend 04” sicherlich kein Vorrecht auf das Subversive und auch keinen Exklusivitätsanspruch in Sachen Grenzüberschreitungen. Es ist aber deutlich geworden, daß genau an dieser Stelle, genau in diesem Widerstand gegen den Zwang der Strukturen und die Fatalität des Marktes ein immenses Kommunikationspotential enthalten ist.

So wie in “Directory” von Frankfurter Küche Thomas Plischke und Kattrin Deufert zu Beginn gemütlich strickend beisammensitzen und dieses Stricken über Rosemary Trockels Satz “Art is knitting tights” bis hin zum persönlichen Strumpfhosentrauma aufgefaltet wird, wenn also die ersten Sätze vom Ar-beitsfluch erzählen und der Möglichkeit von Müßiggang (als einem der Hauptmerkmale gängiger Tanzauffassungen: Tanz ist Zerstreuung), dann wird hier genau der Bogen aufgespannt, welcher die Struktur mit ihrer Macht rückkoppelt und damit die Wirkungskraft neutralisiert.

Das Medium, in dem sich beide zeigen und darstellen, bleibt vom Medium bzw. vom Gegenstand, der dargestellt werden soll, auf eigenartige Weise abgehängt. Die Dimension des Performativen, welche in spezifischer Weise für jede Bühnensituation reklamiert wird, ist auch im bloßen Stricken letztlich erfüllt. Denn auch hier kann etwas verwirklicht, kann etwas manifest werden, auch hier sieht man einen Voll-zug, der sich selbst weitertreibt. Nur ist eben die überbrachte Trennung zwischen den Sphären der Kunst und des Lebens, des Hohen und des Niederen, des Alltäglichen und des Erhabenen fragwürdig geworden. Dabei geht es FK, exemplarisch für eines der Anliegen im zeitgenössischen Tanz, nicht um eine Vermengung oder Gleichsetzung von Kunst und Alltag (dazu sind die Distinktionsstrategien viel zu deutlich); wohl aber geht es um eine Vermengung von kategorialen Erscheinungen. De- und Rekontextualisierung sind Voraussetzung für eine neue szenische Wahrheit. Immerfort aber müssen diese Linien und Begegnungsorte neu vermessen werden, weil ihr So-Sein dem Aussagewillen, der Komplexität des Aussagemoments und der Geschichtlichkeit des Aussagevorgangs immerfort widerspricht. Tanz (als Aufführungskunst) scheint sich daher selbst immer wieder Exotisieren zu müs-sen, scheint sich als Aussagekonvolut nicht auszuhalten, braucht auf dem Wege der Transfusion/der Infusion immer wieder neue Energie. “Life is a force, too, that can be turned on and off, like electricity”, heißt es in “Directory”, und zwar als insistentes Motto, erst geflüstert, dann gestammelt, dann mit dunklen Streicherklängen unterlegt, schließlich laut gerufen und auf dem Projektionssschirm als Text eingeblendet.

Diese “Kraft des Lebens” soll im Tanz irgendwie aufgehoben sein; aber sie muß immerfort neue Formen finden, weil “das Leben” allein, die Doktrin vom “sichtbar gewordenen Naturlaut” eben nicht ausreicht. Diese Art der Rahmung von Tanz engt ihn immer ein, gerade weil er in seiner Natur eine Art Rahmenlosigkeit, etwas Uneinschränkbares enthält, eine Grenzenlosigkeit. Das Alte (der Bezug auf die Gattung, das Genre) kann so nur als fortwährende Destruktion gegenwärtig sein. Das Neue ist immer das zerstörte Alte. Das findet sich wieder in der wiederholten Bezugnahme auf Orpheus (“Orpheus Street is strictly one way”), denn anscheinend ist die Erlösung des Tanzes aus seiner Definition wie aus seiner Flüchtigkeit nur über eine totale Unerschrockenheit gegenüber der Zukunft und eine Unterdrückung der Vergangenheit, über ein schweigendes Mitschleppen des Gewesenen zu haben. Das Neue ist immer das Exotische, das Exotische ist immer neu, und in der Verbindung aus beidem entsteht das aktuelle Kunstwerk der Aufführung.

Der ewige Neuaufbruch ist aber auch ein Fluch. Vielleicht liegt darin eine Klammer verborgen: Am Anfang sehen wir beide Darsteller stricken und lesen vom Arbeitsfluch; am Ende hausen die Tänzer in einer Favela und suchen nach einer Art der “authentischen” Arbeit, nach einem Kern ihres Tuns jenseits des Konventionellen. Vielleicht muss man und müssen sie und muss die Darstellende Kunst eben wieder einmal um die Erde wandern und sehen, ob es von hinten irgendwo einen Zugang gibt zur Darstellung, zur Erkenntnisform, zur “Unschuld”.

FK machen in “Directory” (Findmittel, Leitfaden) womöglich ein Statement über die Verlorenheit aller dieser Versuche, den Tanz und die Darstellende Kunst ewig neu zu erfinden, in der Hoffnung, dadurch auf neue Inhalte, Wahrheiten und Verbindlichkeiten zutreffen. Das ist vielleicht die gepflegte Traurigkeit ihres Stücks, die einen unweigerlich ergreift – jedenfalls, wenn man das “Tanz-Denken” einmal abgelegt hat. Eine solche Haltung wäre jedenfalls die Voraussetzung dafür, dem Tanz diese Formen der definitorischen und damit auch ästhetischen Offenheit zuzugestehen. “westend 04” ist genau dafür eingereten. Das macht den vielleicht größten Erfolg aus, denn es zeigt, dass auch in Zeiten neokon-servativer Bestrebungen im Bereich der Kulturförderung, der Fachkritik und der Bildungspolitik in einem Zusammengehen interessierter Seiten markante Profilierung und kreativer Umgang mit transdisziplinären Formen möglich bleiben.