Dear Sir
An open letter to Professor Elberfeld
Herrn Professor
Dr. Rolf Elberfeld
Universität Wuppertal
per email
Berlin, den 14. November 2003
Sehr geehrter Herr Professor Elberfeld,
im Nachhall meiner Ausführungen am letzten Vormittag der Wiener GTF-Tagung und Ihrer an diesen Überlegungen formulierten Kritik ist es mir ein Bedürfnis, einige Gedanken nachzutragen, die ich für wichtig halte. In der Tagungssituation kam mir Ihr Angriff zu unvermittelt, weswegen ich meine Positionen nicht wirklich habe verteidigen können.
Natürlich und zurecht werden Sie nicht ernsthaft erwarten, daß ich mich in einen ungleichen Kampf stürze und mit Ihnen über philosophische Grundbegriffe disputiere. Das wäre unangemessen und lächerlich. Im übrigen haben Sie den Sieg ja schon davongetragen und – wohl nicht nur in eigenem, sondern auch im Sinne zahlreicher anderer Hörer – meine Darlegungen aufgerieben. Das war zwar nicht schwer, dennoch gebührt Ihnen für die wirkungsvolle Art Ihrer Intervention Anerkennung.
Gleichwohl sei mir gestattet, meinem Befremden darüber Ausdruck zu geben, daß es offenbar nicht zulässig sein soll, angesichts einer künstlerischen Praxis, die doch offenkundig eigene Ordnungen beansprucht und beanspruchen darf, wenigstens versuchsweise auch andere Rezeptions- und Argumentationsmuster zu entwerfen. Daß es nicht verstattet sein sollte, sich auf dem Wege dieser Annäherung an ein spezifisches Verständnis von Tanz auf Äußerungen wichtiger Autoren der Geistes- und Kulturgeschichte zu berufen, leuchtet mir dabei am wenigsten ein.
Gleichfalls versetzt es mich in Erstaunen, daß Sie mir im Pausengespräch nach der Veranstaltung nahelegten, doch “einfach Kritiken zu schreiben”, anstatt sie auch noch erklären zu wollen. Ich hatte bisher immer gedacht und bleibe auch bei dieser Überzeugung, daß gerade die Praxis des Kritikers, sofern man eine Glaubwürdigkeit dem Gegenstand gegenüber bewahren möchte, ein ganz erhebliches Maß an Selbstreflexion und Rechenschaftslegung über die eigene Tätigkeit erfordert. Genau in dem Maße übrigens, wie auch der Tanz in seinen zeitgenössischen Formen sich dadurch auszeichnet, seine Entstehungsbedingungen, seine sozialen, kulturellen, ästhetischen Einbindungen mit zu reflektieren und eben gerade nicht auf schlichte Eingängigkeit zu setzen.
Ich jedenfalls werde mich von meinem Vorhaben nicht abbringen lassen, den Tanz als System der Bedeutungsproduktion weiterhin ernst zu nehmen und seine spezifischen Mitteilungsformen im Wechselspiel aus Subjektivität, Wahrnehmungslenkung und Geschichtlichkeit am konkreten Gegenstand, d. h. an der Choreographie und an der tänzerischen Entäußerung, zu messen und meine Maßstäbe, meine Kriterien, meine Vorlieben an das Werk anzupassen, anstatt umgekehrt im Sinne eines Tanzfundamentalismus zu versuchen, tänzerische Erscheinungsformen nach einem vorgefaßten System (der Kritik, des Geschmacks ...) zu bemessen.
Sie mögen auch im Namen jener Fraktion gesprochen haben, die dem Tanz bestimmte Arten und Weisen der Selbstartikulation zugestehen oder versagen will. In diesem Sinne mußten meine Ausführungen schon im Grundsatz und vom Ansatz her widerstreben. Den Ausführungen Ihres Eröffnungsvortrages entnehme ich zudem, daß sie den Tanz in gleichsam essentialistischer Weise über eine vom Ereignis abgelöste Sinnesqualität zu definieren anstreben, welche zur künstlerischen Absicht in einer Art perzeptorischem Kontingenzverhältnis steht. Ich persönlich strebe es statt dessen an, den Werken der Choreographen im Wortsinne zu lauschen, oder, wie ich es ja auch in meinem Vortrag formuliert habe: Ich möchte gegenüber dem Tanz “die Geduld haben, den unterschiedlichen oder verworrenen Bedeutungen dieser Begriffe, die wir uns machen/machen wollen, den Bedeutungen also als den zu ihnen gehörenden Körpern so lange zuzuhören und sich ihnen so lange auszusetzen, bis man ihnen ihre augenblickliche Wahrheit im Moment der Aufführung ablauschen kann.”
Zweifellos ist dies kein hoheitlich legitimiertes Unterfangen, sondern eine immer umstrittene, oft mühsame, weithin uninspirierende, in manchen Fällen aber – und um derentwillen lohnt sich das gesamte Tun – begeisternde Tätigkeit. Preiswürdig ist sie allerdings nicht. Trotzdem werde ich Ihrer Empfehlung nicht folgen, “einfach nur Kritiken” zu schreiben. Denn so einfach ist der Tanz nun einmal nicht, was Ihnen in Erinnerung zu rufen sicherlich unnötig sein wird. Einfach ist es immer nur, Verrisse zu schreiben. Ihr Punkt, sehr geehrter Herr Professor Elberfeld, war daher leicht gewonnen.
Mit freundlichem Gruß
Ihr
facramer