Kuscheltanz

Bei Felix Ruckerts „deluxe joy pilot“ darf jeder mal.

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Berlin 4 Dec 2000German

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Contextual note
The piece was presented one year later at the Tanzplattform Deutschland 2002 in Leipzig.

Endlich ist die sonst ziemlich karge und im Winter eiskalte Bühnenhalle des Dock 11 so richtig warm und gemütlich. Eine Art kubistischer Wolkenhimmel aus Stoffpaneelen ist die Wände hinaufarrangiert. Aufblasbare blaue Sitzmöbel stehen locker verteilt zwischen unterschiedlich breiten, erhöhten Liegestätten und Lagerplätzen. Das Licht ist gedämpft, die elektronischen Klänge ebenso. Empfangen wird der Gast in Felix Ruckerts neuester Produktion „deluxe joy pilot“ von einer Schar ungewöhnlich gewinnend und huldvoll lächelnder Tänzerinnen und Tänzer.

Gemäß der „Gebrauchsanleitung“ auf dem Programmzettel hat nun jeder die Möglichkeit, sich fürs maßvolle Mitmachen oder fürs bloße Zusehen zu entscheiden – je nachdem, wohin er sich setzt: auf die demokratisch-pneumatischen Sessel oder auf eine der zwei lasziven Liegen-Kategorien. Haben dann alle gewählt, kann die etwa eineinhalbstündige Gratwanderung beginnen, bei der herkömmliche Anstandsgrenzen mehr als einmal in inszenierte Abgründe zu stürzen drohen. Denn während in der leergeräumten Saalmitte mit zackigen, verträumten, auch seligen oder zerknautschten Einzel-, Paar- und Gruppenimprovisationen geschmeidig-geschulte Beweglichkeit vorgeführt wird, wenden sich die Nicht-Tanzenden des Ensembles an die Zuschauer. Wer sich auf einem Podest niedergelassen hat, wird jetzt mit aller Aufmerksamkeit umsorgt und betüddelt wie sonst nur der Privatpatient im Seelensanatorium. Schläfenmassage, Gelenkgymnastik, in Einzelfällen sogar Höhenflug und medizinische Umbettung – das alles erlebt der Einzelne, und der Sessel-Sitzer schaut staunend zu. Mancher wohl auch neidisch, denn es kommt zu spontanen Platzwechseln. In den Genuß einer solchen artistischen Kuschelsitzung will auch mancher Augenmensch einmal kommen.

So gerät „deluxe joy pilot“, in sehr frühen Ankündigungen auch mit dem Arbeitstitel „Sex“ versehen (worauf man möglicherweise nach Sasha Waltz’ durchgefallenem „S“-Stück verzichtet hat), zu einer ziemlich unverfrorenen und zugleich raffiniert unschuldigen Recherche-Reise ins Auge des Körpers des Zuschauers. Denn die Mischung aus Selbsterfahrungsgruppe und wohligen Segnungen tänzerischer Heinzelmännchen befragt die eigene Körperlichkeit – es gibt ja auch Dicke im Publikum – ebenso wie herkömmliche Zuschau-Muster: Die im Genre eingelassene Erotisierung wird auf perfide Weise affirmiert, weil das übliche Berührungsverbot nach beiden Richtungen aufgehoben ist. Die jungen, schönen, hier sogar freundlichen Tänzerinnen und Tänzer dürfen berühren und berührt werden. Alles ist auf’s transgressive Kitzeln angelegt, aber genauso auf’s gemütliche Zuschauen. Dagegen geraten sogar die Ausflüge ins anekdotische Fach zum schmerzhaften Stilbruch. Wenn etwa eine Tänzerin reglos am Boden liegt und ein Kollege sie aufheben und wegtragen will, jedoch keinen Ablageplatz findet, die Ohnmächtige dann erwacht und sich wehrt – dann wirkt gerade diese Überausstattung mit gespielten Inhalten peinlicher als die und die sorgfältig arrangierten und dennoch spontanen und also unberechenbaren Berührungsszenen.

Felix Ruckert dehnt mit seinen berüchtigten „Choreographischen Projekten“ die Grenzen des Bühnenkompatiblen immer weiter aus. Mit „deluxe joy pilot“ navigiert er jetzt ebenso durch die Lustzonen des nicht mehr anonymen Zuschauers wie durch die Reize der Bühnenkunst als stets ambivalenter Live Art zwischen Einschluß und Ausschluß, Nähe und Ferne, Betrachten und Begehren. Und jeder soll mitmachen dürfen. An welchem Platz auch immer.