Ein Lego-Spiel bis zur Erschöpfung

Wim Vandekeybus zeigt "What the body does not remember"

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 23 Nov 1995German

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Wim Vandekeybus und seine Gruppe Ultima Vez waren der letzte Schrei. Zusammen mit Edouard Lock von La La La Human Steps galt der belgische Choreograph in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre als Vertreter eines schockierenden und faszinierenden Brachialtanzes, der die Gewalt, der unsere Körper im Alltag und in den Medien zunehmend ausgesetzt sind, auf der Bühne reflektiert. Erst mit seiner letzten, schauspielerisch mißlungenen Arbeit, "Alle Größen decken sich zu", mit der Ultima Vez im Frühjahr in Frankfurt zu sehen war, hat der 32 jährige Brüsseler seinen Hardcore-Stil gegen ein melancholisches Nachdenken über das Alter und den Tod eingetauscht.

Im Künstlerhaus Mousonturm war jetzt zum ersten Mal in Frankfurt jene Arbeit zu sehen, mit der Vandekeybus 1987 die Tanzwelt auf den Kopf stellte und dafür sogar mit dem Bessie Award, dem amerikanischen Tanz-Oscar, ausgezeichnet wurde. "What the Body does not Remember" wirkt im Rückblick naturgemäß weitaus weniger brutal als formal. Das Stück zeigt sich noch sehr stark dem tänzerischen Minimalismus verpflichtet, der Alltagsbewegungen rhythmisch steigert und in der Serie variiert. Doch Vandekeybus zieht aus diesen minimalistischen Komponenten einen maximalistischen Effekt mit klaren, einfachen Lichtwechseln, die ebenso auf der Bühne ausgestellt werden wie die Kleiderständer, die die Kostüme der Gruppe zum Bühnenbild erheben.

Fünf Tänzer und fünf Tänzerinnen laufen bevorzugt auf der Diagonalen und im Kreis, tauschen dabei blitzschnell die Jackets, ziehen sich die bunten Handtücher von den Hüften oder werfen sich weiße Maurersteine mit einer derartigen Kraft und Geschwindigkeit zu, daß man Angst hat, die Steine erschlügen jeden Moment einen vorbeilaufenden Tänzer. Solche Bewegungsfolgen sind nur dann möglich, wenn sich die Mitglieder der Kompanie blind vertrauen. Diese Blindheit, mit der Wim Vandekeybus zuweilen tatsächlich auf der Bühne operiert, ist für ihn Chiffre für den Einbruch des Unkontrollierbaren in die Ordnung der Dinge. Vandekeybus' Choreographien suchen stets den Extrempunkt, an dem die Annäherung der Tänzer untereinander zur Gefahr wird. Sein Tanz ist ein mechanisches, bis zur Erschöpfung getriebenes Verketten, eine Art Lego-Prinzip, das die Gestalt der Körper blitzschell verändert, ohne daß das Auge der Zuschauer den Umschlagpunkt genau erfassen könnte. Der Ort dieses Tanzes ist die Grenze zwischen Chaos und Ordnung, die zu Beginn des Abends in Form von parallelen Lichtstreifen auf den Bühnenboden geworfen wird. Doch die beiden Tänzer liegen quer zu diesem Raster. Ihre Impulse erhalten sie von der stark perkussiven Musik Peter Vermeerschs und Thierry de Meys, die hart gegen ihre Körper geschnitten ist.

Um zu tanzen, sagte Saburo Teshigawara einmal in einem Interview, müsse man sein bewußtes Gedächtnis ausschalten. Wim Vandekeybus' "What the Body does not Remember" zeigt, daß der Körper schneller ist als unser Denken und unsere Wahrnehmung. Der Körper erinnert sich nicht. Er reagiert und handelt, um zu überleben. Unter extremer Anspannung kreiert er neue Haltungen und Bewegungsmuster, die Vandekeybus mal synchron, mal zeitversetzt, dann wieder spiegelverkehrt und in Isometrien tanzen läßt. Dabei nutzt er den Raum so geschickt aus, wie kaum ein anderer Choreograph. Vandekeybus' Tanz ist ein Tanz bis auf die Knochen, der dem stampfenden Rhythmus der schweren Stiefel ausweicht, die die Tänzerkörper wie unliebsame Insekten auf dem Boden jeden Moment zu zerquetschen drohen. Nicht alle Szenen können in der gezeigten Länge überzeugen. Doch wer könnte sich ihrem ebenso witzigen wie bewundernswerten Lego-Prinzip entziehen?