Die portugiesische Choreographin Vera Mantero war einmal Ballerina - heute ist sie eine phantastische Philosophin im zeitgenössischen Tanz

Dichtung und Wildheit

Salzburger Nachrichten 1 Oct 1999German

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Wer oder was ist Vera Mantero? Einerseits zweifellos geboren 1966 in Lissabon und heute Portugals bedeutendste zeitgenössische Choreographin. Sobald wir allerdings den Wegen folgen, auf welchen sie uns voraustanzt, betreten wir eine abenteuerlich farbenfrohe Landschaft, eine phantastische, philosophische Spielwiese, aber auch unsicheres Terrain.

Sie hätte eigentlich eine Ballerina werden sollen und wollen. Bereits als kleine Vera hatte Mantero Ballett-Training, und sie stand mit 18 vor der Wahl, entweder ins portugiesische National-Ballett oder in das bessere und modernere Ballet Gulbenkian einzutreten. Sie entschied sich für letzteres. «Bei Gulbenkian», sagt sie, «bin ich fünf Jahre lang geblieben. Während der ersten beiden Jahre habe ich viel gelernt, im dritten bekam ich bereits Zweifel, und die restlichen beiden Jahre waren wirklich schwer für mich.» Die 23-jährige brach aus.

João Fiadeiro, eine weitere Hauptfigur der neuen Tanzperformance in Portugal, lernte die Kollegin zu dieser Zeit kennen: «Als ich zum Gulbenkian Ballett ging, traf ich dort auf Vera Mantero, Francisco Camacho und andere, die heute weniger bekannt sind. Ich versuchte weiterzugeben, was ich gerade in den USA über den neuen Tanz gelernt hatte. Vera war begeistert. Wir gründeten eine Gruppe, “Pós d' Arte". Zur selben Zeit, 1988/89, stellte uns ein Festival in Lissabon, das auch von Gulbenkian organisiert wurde - man kann also sehen, wie wichtig dieses Ballett für uns war -, den europäischen Mainstream im zeitgenössischen Tanz vor: sowohl das Geschehen in Frankreich als auch die junge belgische Choreographie, Wim Vandekeybus und Anne Teresa de Keersmaeker, außerdem Pina Bausch, Trisha Brown und Cunningham. Damals waren wir um die 23 Jahre jung. Eine perfekte Situation! 1990 gab es in Belgien ein großes Festival, die «Europalia», mit dem Thema Portugal. Wir hatten einige Tanztheoretiker, Journalisten und Philosophen um uns versammelt; sie arbeiteten auf ihrer Ebene auch gegen das veraltete System und versuchten, das Konservatorium, was den Tanz anlangt, zu verändern. Erstmals erhielten wir genug Geld, um unsere Arbeiten zu produzieren. Das war also sozusagen der Abflug des neuen Tanzes in Portugal. Wir alle produzierten unsere Stücke, und jeder schlug seinen eigenen Weg ein.»

Mit Witz, Intelligenz und Wildheit wurden vor allem Mantero und Fiadeiro zu Hauptfiguren in der Generation jener europäischen Tanzschaffenden, die heute etwa Mitte dreißig ist. In ihrem neuesten Stück, Poetry and Savagery (Dichtung und Wildheit), das nun im Rahmen von «imagetanz 99» im Wiener dietheater Künstlerhaus zu sehen sein wird, scheint Vera Mantero alle ihre poetische Unbändigkeit auf einen Höhepunkt hin zu treiben. Der Tanz ist in dieser Performance auf ein Minimum reduziert. Sechs wie aus der «normalen» Wirklichkeit in ein ein Irrenhaus katapultierte Gestalten kehren die absurden Kapriolen ihres in eine Parallelwelt gekippten Innenlebens nach außen. Poetry and Savagery stellt die Fortsetzung einer zuvor entstandenen Arbeit dar, The Fall of an Ego. Dort durchleben Durchschnittsmenschen in feinen Anzügen eine langsame Metamorphose. «Ich glaube», sagt Mantero, «daß wir auf einem sehr flachen Existenzniveau leben. Es ist doch traurig, daß wir nur etwa 20 Prozent unseres Gehirns und auch unserer Existenzmöglichkeiten nutzen. Vielleicht suche ich nach den restlichen 80 Prozent.» In The Fall of an Ego betreten die Akteure dieses unbekannte Reich, das die Choreographin als «Zustand der Offenheit als Gegensatz zu dem, worauf wir üblicherweise konditioniert sind» beschreibt.

In Poetry and Savagery ist dieser Übertritt bereits geschehen, und wir können durch die Augen der Künstlerin beobachten, wie es «drüben» aussieht. Sie stellt fest: «Im Gegensatz zu unserer Fähigkeit zu extremer Brutalität und unglaublicher Grausamkeit gibt es in uns die Kapazität zu außergewöhnlicher Sensibilität und tiefem Verstehen.» Manteros Paraphrase auf Dichtung und Wahrheit beruht auf einer Erkenntnis, mit der sie ein früheres Stück, For bored and profound sadnesses, das 1995 ebenfalls im Künstlerhaus zu sehen war, erklärt: «Der Mensch verspürt, um geistig zu überleben, das dringende Bedürfnis nach Ordnung und Unordnung, nach Schmutz, der sich hinter scheinbar Sauberem verbirgt. Die Furcht vor Unordnung und Schmutz hindert uns daran, Intensität zu erreichen.»

Hier entschlüsselt sich die ungewöhnliche, ausschweifende Bild- und Bewegungssprache der Portugiesin. Bereits in ihren beiden Soli Perhaps she should dance first and think afterwards und A mysterious thing, said e.e. cummings, die während dem diesjährigen Festival «Tanzsprache» im Wiener WUK zu sehen waren, greift Mantero zu diesem scheinbaren Gegensatz. Die extrem talentierte Tänzerin bringt sich auf der Bühne in labile Situationen, ins Stolpern und Schwanken. Wachsfüße schmelzen um sie herum, sie steckt ihre Füße in Ziegenhuf-Schuhe und bricht die Fähigkeit zur balancierten Ordnung der Tanzästhetik. Sie schlüpft in die Rolle der «danseuse fatale» Josephine Baker und variiert einen kurzen Text, in dem sie sich immer wieder in das Resümme stürzt: «Atroce!» Widerlich. Ihre Stimme aber scheint dieses Wort in Hingabe zu kleiden.

Die Tanzzeitschrift «Ballett International/Tanz Aktuell» (Berlin), bezeichnet Mantero als «Das tanzende Buch», als obsessive Lesende, in deren Stücken auch immer wieder Bücher auftauchen. Der auch in Europa sehr einflußreiche amerikanische Tanztheoretiker André Lepecki, meint, «man kann nicht umhin zu denken, wie Text, magisch wiederholt, zur einzig wirkungsvollen Bewegung wird, zur Bewegung, die berührt». Vera Mantero ist hochgebildet und, wie das so oft im intellektuellen Bereich der Tänzerschaft zu beobachten ist, im Gespräch von einer bescheidenen Natürlichkeit (Dichtung); auf der Bühne allerdings durchbricht sie mühelos gesellschaftliche Normen, wirft uns eine andere, verstörende Welt zu wie einen nassen, bunten Ball (Wildheit).

Was nun - etwa in Dichtung und Wildheit (portugiesisch: Poesia e Selvajaria) - wie ein willkürliches Chaos auf die Bühne kommt, scheinbaren Unsinn treibt und unsere Vorstellung von ordentlichem Tanz auf den Kopf stellt, ist das Ergebnis eines ganz bewußten Schaffensprozesses. Alle Bilder, Szenen und Akte sind Beschreibungen einer anderen Welt, die um «80 Prozent» größer ist als unsere, weil ihre Bewohner sich nicht mehr an die Grenzen halten müssen, die uns gesetzt sind. Dieser andere Bereich ist natürlich auch gefährlicher, lächerlicher und nackter als die Zivilisation, in der wir uns bewegen.

Solange diese Zivilisation allerdings eine Kultur erhält, die Künstler wie Vera Mantero und ihre mitschaffenden Tänzerinnen und Tänzer, Nuño Bizarro, Ana Sofia Gonçalves, Margarida Mestre, Frans Poelstra und Christian Rizzo, dazu einlädt, uns Einblicke in andere Welten zu eröffnen, dürfen wir zufrieden sein und uns, ob nun mit verstehendem Lächeln oder verwundertem Kopfschütteln, unseren Teil - denken.