Swallow My Yellow Smile - Schlucke mein feiges Lächeln

Programm zu dem Stück von Meg Stuart und Via Lewandowsky

Programme note 1 Jun 1994German

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Contextual note
André Lepecki was assistent dramaturg for the production Swallow My Yellow Smile, which premièred June 11, 1994, in Deutsche Oper Berlin (D).

Der politische Diskurs über Sinn und Wert (ob ästhetisch, ethisch oder ökonomisch) kann als fortschreitender Prozeß der Schaffung eines Logos und eines Rhythmus zum Dasein gesehen werden. In dieser alltäglichen Algebra von Bewegungen und Sprache kollabiert die vernunftgemäße (nicht die vernünftige!) Artikulation der politischen Konstruktion des Sozialen, sobald sie mit einem widerständigen Körper konfrontiert wird, der den Nervenstrang unter der öffentlichen Haut freilegt.

Was wäre, wenn wir uns jenseits der geschlossenen Oberfläche des Alltags vor einem Kunstprojekt finden - und genauer vor einem choreographischen Projekt -, das von Anfang an beabsichtigt, in Begriffen wie Kollaps und Un-Artikulation deren konstruktives Potential zu problematisieren? Was wäre, wenn man Nietzsches Entwurf des Darstellers, bestehend nur aus „Oberfläche und Seele“, umkehrte und in das Reich der Choreographie menschliche Physiologie und Furcht einführte?

Die Zusammenarbeit der Choreographin Meg Stuart und des Bildenden Künstlers Via Lewandowsky deutet auf mögliche Antworten dieser Fragen. Die Choreographie kreist um die Zurschaustellung von dem, „was sozialerweise versteckt bleiben muß“: zum einen um den physischen und emotionalen Ausdruck eines mißhandelten Körpers; zum anderen um die politischen und ästhetischen Implikationen im Überdenken der Beziehung einer äußeren Landschaft (der Haut, der Öffentlichkeit, der Welt) und einer inneren Landschaft (des Physiologischen, des Privaten, des Körpers).

Wann immer die sozial-normativen Regeln sprachlichen und körperlichen Artikulierens von einer „Konterpoetik der Dis-Artikulation“ durchdrungen sind, wird die Ausgrabung der Logik des choreographierten öffentlichen Lebens möglich. An dieser Kreuzung ästhetischer Neuformulierungen und Konfrontationen ist Swallow My Yellow Smile - Schlucke mein feiges Lächeln angelegt als eine fortschreitende Folge choreographischer und visueller Metaphern über das Versagen der Sprache, das Bild eines leidenden Körpers auszudrücken, über die Fremdheit des Daseins; aber auch über das Potential von Widerstand und Erneuerung aus der körpereigenen Ausdauer.

Stilistisch zeigt sich Meg Stuarts Tanz als das strukturelle Gegenteil von Heinrich von Kleists Traum der Tänzerpuppe: diesem schwerelosen, geschmeidigen Körper, der unter der strengen Führung des intellektuellen Willens des Puppenspielers dahinfliegt. In vollkommenem Gegensatz hierzu tragen die Tänzer in Swallow My Yellow Smile - Schlucke mein feiges Lächeln das volle Gewicht des Lebens an den Rändern der Existenz.

Die Bewegungen Meg Stuarts sind always already die Definition einer anderen Algebra des Ausdrucks: jenseits des Logos deuten die Bewegungen der Tänzer darauf, daß der zweite Teil des Wortes Choreo/graphie eingebettet ist in das Gerüst der Kontrolle und des Normativen.