Die Suche nach dem Körper im Tanz

Drei Performances im Podewil

1 Nov 2000German

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Welche Rolle spielt der Körper für die rationale Freiheit des Ausdrucks? Ist er Bedingung oder Hindernis für Wahrheit auf der Bühne? Die ästhetischen Form-Visionen des Theaters mögen so hoch fliegen, wie sie wollen, der Körper hemmt beharrlich die Schwingen des Geistes. Er will immer wieder Leib werden und bloße irdische Gestalt sein, fernab aller Deutungsmuster. Je weniger Selbstverständlichkeit dem Körper zugestanden wird, desto eigensinniger wird das Leibliche. Besonders natürlich im Tanz.

 

Die Suche nach einem Bewegungsansatz, der den Körper und seine ästhetische Widerständigkeit selbst statt technische Brillanz oder raumschöpferisches Genie zum Thema hat, steht deshalb auf der künstlerischen Tagesordnung seit langem obenan. Das Podewil präsentierte jetzt im Rahmen der Reihe "Double Feature" drei Soloarbeiten mit aktuellen Antworten auf drei alte Problemzonen des Körpers: Nacktheit, Außenwirkung, Ganzheit der Gestalt.

Die Spanierin La Ribot greift auf die Groteske zurück. Seit mehreren Jahren arbeitet sie an den "Piezas Distinguidas", den "Ausgewählten Stücken", ihrer eigenwilligen Form tänzerischer Witzereißerei. 100 Episoden zwischen 30 Sekunden und sieben Minuten Länge will sie insgesamt erarbeiten (und man kann sie käuflich erwerben). Einstweilen gibt sie mit "Más Distinguidas" – "Mehr ausgewählte Stücke" – dreizehn solcher Bewegungswitze zum Besten, deren Pointen allerdings eher makaber sind. Einerseits kokettiert La Ribot nämlich mit der Nacktheit, was die Zuschauer immer in eine peinliche Position versetzt und jeden Lacher zur Entlarvung macht; andererseits wird gerade diese Nacktheit rasch zum stillen Einverständnis und zur Verständnis-Grundlage. Erst weil beide Seiten wissen, wie fließend der Übergang von Nacktheit zu Bekleidung ist, können die Bilder ihre durchtriebene szenische Unschuld entfalten. So klebt sich La Ribot Polaroidaufnahmen ihrer Brüste und ihrer Scham auf Brüste und Scham und wartet gemeinsam mit dem Publikum, bis die Bilder sich entwickelt haben. Anschließend läßt sie mit großen schwarzen Balken genau jene eben präsentierten Körperpartien zensurieren, die für Entblößung stehen, und posiert dazu gespreizt. So unbekleidet sie auch sein mag, nackt ist sie nie. Von Körper wie Aufführung kann man Schicht um Schicht abtragen, am Ende wird nichts übrigbleiben, und man wird das Entscheidende nicht gesehen haben.

Weil eine Tanzaufführung im Grunde gar nichts ist, denn sie ist dahin, sobald man sie gesehen hat, macht der gastweise in Berlin tätige Tanzkonzeptkünstler Jérôme Bel auch gar nicht erst etwas. Alle Bewegung in dem Solo "Glossolalie", entworfen von der jungen Choreographin Myriam Gourfink als Studie über die Spannung zwischen Stillstand und Ausbruch, Erstarrung und Fluß, ist radikal nach innen verlagert und in den Zustand der beseelten Zeitlupe versetzt. Manchmal merkt man nur am Quietschen der Turnschuhe auf dem Fußboden, daß Bel sich tatsächlich regt. Nach einer Stunde bricht das gymnastische Raunen einfach ab. Der "tanzende Körper" ist organische Einheit geblieben, unverstellt vom Zuschauerblick, fern aller ästhetischen Zurichtung – freilich um den Preis der Wirkung. Solch perfides Pathos liegt Xavier Le Roy fern. Der Franzose mit Arbeitsmittelpunkt Berlin ist gerade am Gegenteil interessiert: an der Zertrümmerung des Formkontinuums Körper. Dessen Gestalt und Umriss, Silhouette und vertraute Proportionen sollen zerlegt werden. "Self-Unfinished", uraufgeführt 1998, ist eine radikale Recherche zum Thema Transformierbarkeit des Körpers und Bildkraft des tänzerischen Werks. Le Roy gelangt mit der größten Selbstverständlichkeit vom spotzenden Maschinen-Menschen zu den absonderlichsten körperlichen Deformationen. Er macht seinen Leib zum plastischen Material und führt den zuschauenden Blick quälerisch irre. Weil jeder Muskel und jeder Knochen, der sich bei gewagten Schulterständen, eingerollter Wirbelsäule, schmerzhaft gestreckten Armen oder krampfhaft geballter Faust aus Le Roys Leibessilhouette hinausreißt, beim Betrachter selbst Schmerzen zu verursachen scheint, wird das Zuschauen zum erschöpfenden Kraftakt. So birgt der Leib offenbar keinerlei Harmonie-Verheißung mehr. Wohl aber konzeptuellen Trost. In der Praxis erweist sich der Widerstand des Körpers gegen alle ästhetische Ordnung nämlich als schöpferisches Stimulans.