Ales vergessen und nichts erinner

Die Berliner Tanztheatermann Jo Fabian zeigt seine neue Arbeit "Alzheimer Light" im Mousonturm

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 29 Jun 1996German

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Schwarz, Rot, Gold sind Bühne und Kostüme. Deutschland ist ein Wartesaal, in dem ein stummer Kellner einen Gast fixiert, der seinen kahlgeschorenen Kopf einfach auf die Tischplatte legt. Drei Frauen in roten Kleidern kommen und gehen, formieren sich an der Rampe zu einem Gesangstrio, dem es die Sprache verschlagen hat. Eine davon wird später erschossen. Doch weil sie sich schon im nächsten Moment nicht mehr daran erinnern kann, kommt sie immer wieder auf die Bühne zurück. Vom Band erklärt die Stimme des Regisseurs, was sich die Gruppe "Example Dept." während der viermonatigen Probenphase zu ihrem neuesten Stück "Alzheimer Light" bei den einzelnen Gesten gedacht hat. Doch versucht man als Zuschauer die Erklärungen für die Zeichen zu erinnern, hat man sie schon bei derem ersten Auftauchen prompt wieder vergessen.

Damit geht es dem Publikum nicht anders als den acht Darstellern und Tänzern. "Vorwärts und nicht vergessen" steht zwar als Motto für eine bessere, post-sozialistische Zukunft auf der Rückwand. Doch Fabians Figuren treten auf der Stelle, weil sie alles vergessen mußten und nichts erinnern können. Erst letzte Woche am Berliner Hebbel-Theater uraufgeführt, ist Jo Fabians Tanztheaterstück über den Zustand einer Gesellschaft ohne Gedächtnis jetzt im Frankfurter Mousonturm zu sehen, der die Arbeit auch co-produziert hat. In der Welt des Ost-Berliner Theatermanns ist alles wörtlich zu nehmen. Alles, was auf der Bühne geschieht, hat nur im konkreten Moment Bestand, in dem es vor uns abläuft. Weil sich schon in der nächsten Sekunde partout niemand mehr daran erinnern kann, was er gerade getan oder gesagt hat, wiederholt sich alles bis zur Absurdität - wie die unendliche Bestellung eines Mannes, der vom stoischen Kaffeehauskellner nicht nur abwechselnd Kaffee und Tee, Erdbeertorte und Pflaumenkuchen, mal mit, mal ohne Sahne, sondern selbstverständlich auch eine Kreditkarte oder einen Mercedes verlangt.

Wie schon im "Vaterlandskomplex", seiner Trilogie aus dem vergangenen Jahr, bewegt sich Jo Fabian auch im fortgeschrittenen Stadium des Gedächtnisverlusts auf drei Ebenen gleichzeitig. Er beginnt mit der Darlegung eines wissenschaftlichen Systems, das durch die Aktion auf der Bühne, wo es keine Eindeutigkeit geben kann, ad absurdum geführt wird. Die Inszenierung mit ihrem durch das Vergessen bedingten Beharren auf dem absolut gegenwärtigen Moment, der durch die Wiederholung doch unmäglich zu halten ist, wird so zu einer Aussage über das Funktionieren von Theater und Kunst überhaupt. Dieses Modell wird dann völlig zwanglos zur Allegorie auf die politische Situation unserer Nachwende-Gesellschaft erhoben: das geschlossene System DDR, in dem jede Geste ihre Bedeutung hatte, gerät als Geschichte in Vergessenheit. Die Biographien der Menschen und ihre Erfahrungen von einst werden für das Leben im Jetzt zusehends bedeutungslos.

Man mag das für gedanklich träge oder gar larmoyant halten: es ist die stringent-präzise, zugleich spielerisch-leichte Umsetzung einer Idee von politischem Theater, das sich Zeit nimmt, Verluste überhaupt zu registrieren, die unbedingt für Fabians Inszenierung einnimmt. Gelegentlich wünschte man ihm mehr Mut, die Szenen noch weiter auszureizen und ins Anarchische auseinanderbrechen zu lassen, um das Leben der Menschen auf der Bühne wirklich ins Offene, und damit ins potentiell Neue zu treiben.

Nach einer Stunde steigert er Rhythmus und Geschwindigkeit, läßt seine Darsteller zu immer fulminanteren Flamencoklängen rotieren, läßt sie Gesten und Szenen wild durcheinander wiederholen, bis jede Orientierung unmöglich wird. Nur vorne an der Rampe, in eine alte DDR Fahne eingehüllt, liegt eine strampelnde Spielzeugkuh, die ihre Beinchen zu den nimmer enden wollenden, blechernen Klängen von "La Bamba" rhythmisch in die Luft streckt. Erich zumindest muß es in Chile gut gegangen sein.