Im Spiegel wird die Liebe zum Schreckbild

Lloyd Newson und seine Gruppe DV 8 zeigen „Enter Achilles“

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 26 Jun 1995German

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Männer unter sich. Auf dem Männerklo stehen sie vor den Spiegeln und legen letzte Hand an ihre Frisuren. Auf dem Sportplatz fallen sie sich in die Arme, stählen ihre Körper und vergleichen ihre Bauchmuskulatur. Zu Hause tanzen sie mit heruntergelassenen Hosen zu Disco-Musik, als seien sie nie erwachsen geworden. In der Kneipe bespucken sie sich mit Bier, um dann auf der Lache auszurutschen. Neuankömmlinge werden beschnuppert, vorsichtshalber für schwul erklärt und verprügelt. Wer sich wehrt, gehört dazu. Denn ein Mann vergibt dem anderen nichts, was er in sich selbst fürchtet. Doch aus den Supermännern, die alles, was sie tun, für "super, Mann" halten, wird schnell ein peinliches "Mann, oh Mann", wenn sie von anderen bei ihren kindlichen Allmachtsphantasien ertappt werden.

Der in London arbeitende Australier Lloyd Newson interessiert sich nicht für abstrakte Schönheit und sublimierte Körperlichkeit. Er denkt inhaltlich und szenisch. In seiner jüngsten Arbeit, "Enter Achilles" die er zusammen mit den acht Tänzern seiner Gruppe "DV8 Physical Theatre" entwickelt hat, stellt er die Frage nach der Selbstunterdrückung des Mannes. "Enter Achilles", das jetzt im Mousonturm zu sehen ist, stellt erneut unter Beweis, daß Newsons Stücke körperliche Gewalt nicht nachbilden, sondern sie als gesellschaftliches Phänomen sichtbar zu machen versuchen.

Hinter den archaischen Männlichkeitsritualen verbirgt sich für den Choreographen ein Mangel am Gefühlezeigen, als dessen Kehrseite sich die Sehnsucht nach Perfektion im anderen Geschlecht darstellt. Doch makellos ist nur die aseptische weibliche Gummipuppe. Sie allein macht stumm alles mit, was Männer wünschen. So verrät gleich der erste Auftritt dieses modernen Achilles dessen Achillesferse. Der geschlagene Krieger liegt im Bett und beginnt in einer ebenso anrührenden wie witzigen Szene, mit einer Gummipuppe zu schlafen. Doch in der Spiegelwand, die die Bühne nach links begrenzt, gefriert die Liebe zu einem Schreckbild, das später in bedrohlich-surrealer Form wiederkehrt. In ihm liegt die traurige Realität der ausgelassenen Männergesellschaft begründet, die am Ende die Puppe, die man plötzlich als reale Frau wahrnimmt, mit einer kaputten Bierflasche vergewaltigt und zerfetzt.

Lloyd Newson entwickelt seinen Tanz aus Alltagsbewegungen- und szenen heraus, die er ins Extreme steigert und stilisiert. Impulse werden durch Berührung weitergegeben, Schwer- und Drehpunkte in die Gliedmaßen verlagert, ohne dabei die exakte Linienführung des Körpers aufzugeben. Newsons Tanz ist in seiner eruptiven Qualität und Geschwindigkeit perfekt geformt. Er wirkt wunderbar geschmeidig und erscheint doch wie eingefroren. Denn die ständigen Berührungen der Männer sprechen auch von ihrer Angst vor der wirklichen Berührung. Es scheint, als könnten sie nicht stillstehen, müßten im Tanz wirklich Männerbande knüpfen, um ihren Wunsch nach Nähe nicht zu verraten.

Lloyd Newson erweist sich nicht in allen Szenen als messerscharfer Analytiker, und manchmal kann er auch der Lust nach akrobatischen Kabinettsstückchen nicht widerstehen. Aber er verfügt über eine sehr genaue Beobachtungsgabe und eine Gruppe von Tänzern, die neben atemberaubender Körperbeherrschung auch schauspielerisches Talent zeigt. Mit großer Ernsthaftigkeit gehen sie den eigenen Männerbildern nach und nehmen sich dabei mit viel Humor und Ironie selbst auf die Schippe, wie es vielleicht nur die Briten können.