Bibel-Nebel

Die Socìetas Raffaello Sanzio kommt mit der "Genesis" zu sich selbst

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Berlin 1 Sep 1999German

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Die Socìetas Raffaello Sanzio zählt zu den umstrittensten zeitgenössischen Theaterunternehmungen Italiens. Von dem Geschwisterpaar Claudia und Romeo Castellucci Anfang der 80er Jahre ins Leben gerufen und seit 1988 im mittelitalienischen Cesena fest verankert, hat sie kontinuierlich Produktionen vorgelegt, die die Kulturgeschichte durchwildern auf der Suche nach einem Theater der reinen Wirkung. Märchen, historische Gestalten und zuletzt auch dramatische Vorlagen dienten als Plattform für bild- und stimmungsgewaltige Phantasmagorien. Prominenteste Beispiel waren "Masoch" 1993, die "Oresteia" 1995, "Amleto" 19.. und 1998 "Giulio Cesare" frei nach Shakespeare.

So düster und verstörend die Bühnenwerke dabei gerieten, so faszinierend waren sie in ihren Mitteln. Was Fellini im Film noch scherzhaft vorführte – skurrile Körper, groteske Fratzen und absonderliche Typen –, das haben die Geschwister Castellucci zu einer Art Gruselkabinett kultiviert: Ihr Personal besteht aus menschlichen Mißgeburten, aus Abnormitäten und Traumatisierten. Dazu kommen Tiere und mechanische Apparaturen, die den unvollkommenen menschlichen Leib umstellen.

Mit ihrer neuesten Produktion "Genesi. From the Museum of Sleep", zu sehen im Hebbel-Theater als Programmbeitrag zu den Berliner Festspielen, hat die Socìetas nun eine finale Volte geschlagen. Aus der biblischen Schöpfungsgeschichte wird eine alptraumhafte Meditation in drei Akten über die Möglichkeiten eines Theaters, sich selbst zu erschaffen und dabei doch nur den Fundus der Kunstgeschichte plündern zu können. Das Sechstagewerk des Alten Testaments beginnt in dieser Fassung als geröchelter wissenschaftlicher Vortrag im Labor der Madame Curie: Luzifer noch vor dem Himmelssturz als gebrochener Forscher erläutert das Licht; anschließend zwängt er sich durch zwei Latten hindurch, und alles Unheil nimmt seinen Lauf. Die Geschöpfe des Himmels und der Erde sind bloß ausgestopfte Exponate in Glasvitrinen. Auch der Mensch ist Exponat, allerdings ein lebendes – ein Kontorsionst, dessen Rippenbögen flirren wie Insektenflügel. Und über Adam und Eva ist bereits gerichtet worden, noch ehe sie sich im Paradies einrichten können. Wenn sie sich niederlegen, beginnt die Erde zu beben.

Ist dieser Teil der Schöpfung schon trostlos genug, beschäftigt sich der Zweite Akt mit dem eigentlichen Widerpart alles Geschaffenen, mit Auschwitz. Der Regisseur läßt wissen, daß ihm diese Wahl nicht leicht gefallen sei, er sich aber "gezwungen" gefühlt habe, dieses Thema aufzugreifen. Doch was ästhetisch frivol hätte werden können, ist in diesem Museum des Schlafes eine anrührende Szenerie, eine Art Weißer Akt. Federn sinken auf sechs engelgleiche Kinder in weißen Sanatoriumsgewändern nieder. Das Grauen ist hier anästhetisiert in einer Spielzeugwelt mit Eisenbahn und Duschvorrichtung. Die Suggestion reicht aus.

Castelluccis Stärke ist die atmosphärische Beschwörung, er schafft ein Pandämonium des Entsetzens, in das sich Zärtlichkeit und eine gewisse katholische Zuversicht mischen. Der dritte Akt, in dem der Brudermord Kains an Abel verhandelt wird, endet mit donnerndem geistlichem Chorgesang: Amen. Irgendwie wird alles nicht so schlimm enden. Mit über drei Stunden Spieldauer erhält diese Genesis etwas Opernhaftes. Die fast barocke Todesverfallenheit und allegorische Rhapsodie klären nichts auf. "Diese Genesis ist nicht nur die biblische, sondern auch jene, die meinen rhetorischen Anspruch zur Welt (zur Bühne) bringt", läßt Castellucci wissen. Tatsächlich bliebt von der Bibel kaum mehr als ein Bildernebel, während das rhetorische Inventar der Socìetas Raffaello Sanzio sich hier selbst allegorisiert: Die Mittel des Theaters mögen der Welt entstammen, doch ist dieses Theater nicht deren Abbild, sondern eine eigene, eine erschöpfte Schöpfung.