Hunt out [reprise]

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Berlin 1 Nov 1999German

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Contextual note
Tis article is based on an interview held with Ina Johannessen and on several showings of zero visibility's production "hunt out...".

Norwegens Tanzszene ist klein. Desto erstaunlicher sind ihre Produktivität und internationale Präsenz. Ingun Bjørnsgaard erhielt vor einem Jahr den Innovationspreis Kunst der Aachener Ludwig Stiftung. Zurzeit ist sie mit ihrer Kompanie Partner des Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt/M., während das Bergen International Theatre im hohen Norden sich seinerseits erfolgreich um Austausch mit Tänzern und Choreographen aus anderen europäischen Regionen bemüht. Die Attraktivität des Tanzlandes Norwegen hat weniger mit arktischer Exotik zu tun ("Wie kann es im dünnbesiedelten Land der dunklen Winter derartige künstlerische Schaffenskraft geben?"), sondern mit einem überzeugenden Ansatz: enorme Selbstreflektion ohne kopflastige Prätention, ironische Brechung herkömmlicher Tanz- und Aufführungsmodelle, starke Betonung auf Raumgestaltung und persönlicher "Authentizität".

 

Das Team Ina Christel Johannessen (Choreographie) und Jens Sethzman (Bühnengestaltung) hat in den letzten Jahren mit seinen frei entstandenen Arbeiten für die eigene Formation Zero Visibility Corp. wie auch mit den Stücken für die einzige feste, staatlich geförderte zeitgenössische Tanzkompanie Norwegens, Carte Blanche, Furore gemacht. Bekanntlich gilt aber der Prophet im eigenen Lande am wenigsten, und so erfährt auch Ina Johannessen im Ausland mehr Unterstützung als im heimischen Oslo. Bis ganz nach oben in den europäischen Festivalzirkus habe man es noch nicht geschafft, sagt die Choreographin mit leisem Bedauern, aber im kommenden Jahr sei für Avignon ein Projekt geplant, eine Kooperation zwischen Zero Visibility und Carte Blanche. Überdies reiche der Tourneeplan mittlerweile bis weit ins nächste Jahr.

Trotz inzwischen gesicherter Finanzierung auf drei Jahre ist aber weitere Außenorientierung notwendig. Und so schlug die Stunde des "fabrik Potsdam e. V.", ein landeshauptstädtischer Verein der freien Kulturarbeit, der es in den letzten Jahren geschafft hat, sich einen Platz als überregionale Spielstätte zu erkämpfen. Auf dem Kulturareal an der Schiffbauergasse, dort, wo Potsdams neuer Theaterbau am Havelufer mit Blick auf Babelsberg entstehen soll, verfügt man inzwischen über einen ausreichend großen Theatersaal sowie Unterkunftsmöglichkeiten für Gäste. Letztes Jahr war Gohannessens Gruppe zum Gastspiel geladen; daraus ergab sich der Kontakt, aus dem jetzt eine Art Kurz-residency wurde: Drei Wochen lang arbeiteten Zero Visibility und die hoch gehandelte englische Musikformation Zoviet*France an den Schluß-Proben zu Johannessen/Sethzmans neuestem Stück "hunt out [reprise]". Am Wochenende war Premiere.

Das Stück um's Jagen und um's Fragen verbindet aufgezeichnetes Videomaterial, gesprochenen Text und Livemusik mit der gewohnt nüchternen, sparsam eingesetzten Bewegungssprache des Ensembles, dessen Vorschläge Johannessen nur ordnet. Sie diktiert nie. Die rudimentäre Spielhandlung dreht sich um einen Leichenfund im Wald und die Frage nach den Hintergründen. Daraus haben Choreographin und Raumdesigner eine düstere Szenenfolge entwickelt, bei der die Videobilder zum stetigen Wummern der Klangkulisse langsam aber sicher wie Nebel in die Wirklichkeit hineingleiten: Der leblose Körper erscheint irgendwann tatsächlich auf der Bühne, und wo er im Film durch Schnitt und Blende beliebig manipuliert werden konnte, ist er nun bloß noch Leib; alle Fragen nach dem Warum und Woher reduzieren sich auf's Gewicht des Fleisches, das einer der Tänzer wegschaffen möchte. Es gelingt ihm nicht. Klatschend fällt die Tote immer wieder zu Boden und wird schließlich auf eine Hand voll Laub gebettet. Bedrückender hat man die Frage nach dem Status des Körpers und "des Natürlichen" im Tanz lange nicht auf einer Bühne vorgeführt bekommen.

Die beklemmende Atmosphäre der Ungewißheit, der dräuenden Letzten Frage, die niemand stellen kann, weil sie über den Anlaß des Leichenfundes hinausgeht und nicht zu formulieren ist, unterstützt Jens Sethzman mit schummriger, sehr punktuell gesetzter Beleuchtung. Nur manchmal ist sie unterbrochen von hektisch flackerndem Neonlicht aus zwei seitlich aufgestellten Leuchtbrettern. Zwei riesige Paravants, die die gesamte Bühne abdecken können, dienen bald als Projektionsschirm, bald als Gefängnis der Befragten und zerschneiden immer wieder die Blickachsen.

Im Gegensatz zu einem ihrer letzten Stücke, "what do we do...", wo das Bühnengeschehen fast aggressiv auf den Zuschauer ausgerichtet war, habe sie mit "hunt out" herausfinden wollen, wie weit man vom Publikum wegspielen kann, erläutert die Choreographin. "Es geht in unserer Arbeit nie um 'Gefühle' oder bloße 'Formen'", versichert Johannessen, "wir wollen vor allem ehrlich sein." Das mag allzu emphatisch klingen für den Arbeitszusammenhang einer Choreographin, doch ist ein großer Teil der atmosphärischen Dichte dieser Arbeit ohne Zweifel dem skandinavischen Ernst der Darsteller geschuldet. Formale Aspekte werden nie zum Ersatz für Stringenz, und wenn sich bei den kurzen Solopassagen die Tänzerinnen immer wieder unterbrechen und wie benommen an den Kopf greifen, so wird hier tatsächlich die improvisatorische Ernsthaftigkeit geprüft.

In ihrer jetzigen Form hat die gut einstündige Arbeit noch Längen und Schwächen, weitere Probenzeiten sind deshalb fest eingeplant. Doch war lange nicht so wagemutig arrangiertes Material auf einer Tanzbühne zu sehen. "hunt out [reprise]" – der Titel bezieht sich auf die 1995 entstandene Lieblingsarbeit der Choreographin "Good/Happy Hunting" – hat die herkömmlichen Grenzen des Tanzes und dessen oft hohle Feier des Körpers überwunden. Johannessen wagt sich in unbekannte Jagdgründe vor. Und sie weiß, was man sich bei solchen Anlässen in Deutschland zuruft. "Waidmannsheil!", buchstabiert sie drei Tage vor der Premiere und lacht.