Die Freiheit ruft

Improvisierte Impressionen von Steve Paxton und Lisa Nelson

Märkische Allgemeine 1 Jun 2000German

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Contextual note
Steve Paxton and Lisa Nelson conducted a workshop at the potsdamer Tanztage 2000 festival. Both gave several performances, lectures, and demonstrations during their stay.
Seit man vor ungefähr 100 Jahren begonnen hat, im klassischen Tanz ein körperfeindliches Formkorsett zu sehen, das den einzelnen Tänzer einengt, unterdrückt und verstümmelt, setzte die bis heute andauernde Suche nach künstlerischer Bewegung ohne Disziplinierung, ohne Drill, Gewalt und Hierarchie ein. Der Freie Tanz, der Ausdruckstanz, der Neue Tanz, der Modern Dance usf. haben sich immer vom Ballett abgrenzen und der Tanzkunst mehr Offenheit verschaffen, die Bewegung zum Ort der Befreiung machen wollen. Einer der radikalsten Vertreter dieser tänzerischen Bürgerrechtsbewegung ist seit den frühen 1960er-Jahren der Amerikaner Steve Paxton.

Sein „Werkkatalog“ liest sich wie die unendliche Fortschreibung eines Manifestes für die Entgrenzung der Formen und gegen alle Hierarchie, gegen den dramaturgischen Blick und für die Fülle des Lebendigen. Pathos wird dabei weder gesucht noch vermieden. Aber sowohl Praxis wie Theorie der Improvisation, also jener Form der regellosen Bewegtheit, die nur der Anatomie des Tänzers, seiner Stimmung, Gefühlslage, Verfassung lauscht und diese zur radikal-subjektiven Kunstgrundlage macht, können eine gewisse Emphase nie vermeiden. Gemeinsam mit seiner engen Mitarbeiterin Lisa Nelson war der inzwischen über 60-jährige Steve Paxton jetzt bei den Potsdamer Tanztagen zu Gast in der fabrik – eine kleine Sensation, die Vertreter der Tanzgemeinde aus der gesamten Region in Scharen anzog, ist doch Paxton längst ein Mythos der Moderne geworden.

Gleichsam als Lockerungsübung zeigten die beiden zunächst je eine kurze Solo-Improvisation. Hier wie auch bei der folgenden gemeinsamen Nummer „PA RT“ gibt es nur lose Vorgaben: etwa Musik- und Geräuscheinspielung, räumliche Anordnung und einzelne Lichtstimmungen. Ansonsten aber ist das Geschehen niemals gleich und soll es auch gar nicht sein. In Nelsons Solo „Memo to Dodo“ ruft eine Stimme ihr andauernd Fernbedienungsbefehle zu: „Stopp“, „Zurück“, „Weiter“. Scheinbar lässt Nelson ihre Bewegungen auch vor- und zurücklaufen. Aber natürlich funktioniert das nicht. Anders als im Reich des Technischen nämlich ist menschliche Bewegung unwiederholbar und immer einzigartig. Fertige „Werke“ oder „Produkte“, die man „reproduzieren“ könnte, gibt es im Tanz nicht. Die Improvisation behauptet das auch gar nicht erst. Statt dessen wird das Zuschauen hier zur ebenso freien Tätigkeit wie das improvisierende Tanzen selbst: Jeder darf machen, was er will.