Breakdance und Körpersprachlosigkeit

Anne Teresa De Keersmaeker mit `Bitches brew/ Tacoma Narrows' beim Impulstanz-Festival in Wien

Süddeutsche Zeitung 19 Jul 2003German

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Bill Forsythe hat schon vor Jahren prophezeit, dass Street- und Breakdance eines Tages an Virtuosität die Stelle des klassischen Tanzes einnehmen würden.Warum auch nicht? Der Tango hat ja auch seinen Weg aus den Kaschemmen der Vorstädte in die kodifizierte Form und aufs gutbürgerliche Gesellschaftstanzparkett gefunden. Wenn einer wie der sozial engagierte belgische Choreograph Alain Platel den Kids auf der Straße die Schulterrolle abschaut, dann wirkt das, weil inhaltlich gedeckt, noch nahe am Ursprung. Wenn aber Anne Teresa de Keersmaekers Tänzerinnen und Tänzer, von einem speziellen Trainer instruiert, sich in Hechtsprüngen und anderen akrobatischen Lektionen des Breakdance ergehen, dann sieht das derweil aus wie eine aufgesetzte Kunstanstrengung.

De Keersmaeker probiert herum. Sie sucht nach dem richtigen Ausdruck für ein neues inneres Movens. In derartigen Phasen hat sie noch nie Angst vor dem Peinlichen gehabt. In „Stella“ aus dem Jahre 1990, ihrem Ausflug ins Pathologische, das auch die Gestalt des Tanztheaters nicht therapieren konnte, schrien ihre Tänzerinnen wie am Spieß und hopsten auf einem Tisch herum. Es war schrecklich.

Jetzt will De Keersmaeker von Politik sprechen. Mit ihrem Solo „Once“ zu Protestsongs von Joan Baez war das ziemlich geglückt. Ihr Blick auf den Aufbruch der 60er Jahre als Mutmacher für eine neuerliche Politisierung, ja den offenen Protest, erschien zwar gedanklich ein wenig schlicht, aber durchaus glaubhaft und, was vielleicht das Wichtigste ist, von absoluter tänzerischer Stringenz.

Jetzt macht sie weiter. Ihr treues Wiener Publikum füllt anlässlich des Festivals „impulstanz“ das Wiener Volkstheater bis auf den letzten Platz. Mit „Bitches Brew/Tacoma Narrows“ wagt Keersmaeker den Sprung vom Ich zum Wir. Dabei passiert etwas sehr Merkwürdiges: Es ist, als schaue sie in einen Rückspiegel und richtet ihn aber nicht auf eine vergangene Realität, sondern auf eine ihrer Spiegelungen. Das ist nicht etwa deshalb fatal, weil man es nun mit einem Zerrbild zu tun bekäme, dessen eigentliche Konturen nicht mehr auszumachen sind. Sondern weil De Keersmaekers Spiegel, gleichsam eine bewegliche und daher instabile Folie ohne Rahmen, meistenteils nur eine blinde Doppelung liefern.

1970 kamen Miles Davis und 13 Musiker mit der Platte „Bitches Brew“ heraus, der grandiosen Improvisation über ein disparates Lebensgefühl in einer gefährdeten Zeit, in der die Brüche und Umbrüche allerdings fast schon vorbei waren: Antikriegsdemos gegen Vietnam, Emanzipation der Schwarzen, Frauenbewegung, Flower Power. Endpunkt Woodstock, wo Jimi Hendrix Amerika seine schrillenden Gitarrensaiten um die Ohren schlug die Sterne eines kreischenden Banners sprühten ätzende Funken. Einer wie James Brown setzte den geilen Rhythmus und seine Stimme als primäres Sexualorgan dagegen, den Funk.Und Miles Davis und seine Dreizehner-Gang zerrieben und zerstampften diese Ingredienzien und ihre Individualität in einer achttägigen Jam-Session zu einem elektrisierenden Gebräu, Elexier aller witches und bitches, egal, ob männlich oder weiblich.

Das alles hat Anne Teresa De Keersmaeker aufgreifen wollen, hat in einen leeren Raum mit ein paar Lloyd Loom Barhockern einen DJ hingestellt, der die Platten auflegt und gelegentlich scratcht; hat sieben Männer und sechs Frauen also die erforderlichen 13 auf die Bühne gestellt; hat ihnen irgendwann transparente Hängekleidchen und Hotpants angezogen; hat sich eines denkbar simplen Disco-Tanzes aus den 60ern mit Namen „Slop“ erinnert. Sie gab die Tänzeranzahl und die Linien im Raum vor und ließ ihre Leute improvisieren. Was ihnen bisher ebenso fremd war wie der Breakdance.

Anne Teresa De Keersmaeker ist eine Choreographin der strengen Form. Sie entdeckte die Erotik in der Repetition und der unendlichen Variation des Immergleichen. Ihre besten Stücke sind der sinnliche Ausdruck höherer Mathematik. Ihre phantastischen Tänzer bewegten sich nahezu ausnahmslos in einem geometrisch abgezirkelten Gehege. Jetzt hat sie losgelassen, sie aufgefordert, sich loszulassen. Was gemeinhin das Allerschwierigste ist, wenn man gewohnt ist festzuhalten. Daran ändern auch ein paar Improvisationsstunden nichts. Und wie die Tänzer hier in Soli, zu zweit und zu dritt oder in lustigen Reihen im Ausfallschritt über die Bühne swingen, wie sie sich gegenseitig in großen Hebungen über die Bühne schaukeln oder, funky, den Unterleib schwenken und das alles mit besagten Breakdance-Elementen zu verquicken suchen, das sieht über weiteste Strecken nach einer für Tänzer schweißtreibenden und für die Zuschauer grässlich ermüdenden Lockerungsübung aus.

Und wenn es dann endlich zur finalen Klimax kommen soll und das Video abspult, das den Einbruch der Washingtoner Tacoma Narrow Bridge dokumentiert, um den zweiten Teil im Stücktitel zu verifizieren, dann leistet sie einen Offenbarungseid an Körpersprachlosigkeit. Anstatt es beim Film bewenden zu lassen, verdoppelt sie die Schwingungen der labilen Brücke in Kindergartenringelreihen, die unter Gezerre auseinander reißen. Dann ziehen sich die Tänzer nackend aus, trocknen sich ab, ziehen sich wieder an und hängen noch einen läppischen Showtanz von überflüssigen 20 Minuten an. Anne Teresa De Keersmaekers unausgesprochenes Postulat hätte nicht heißen sollen: Lasst uns politisch handeln! Ihr Discjockey hätte rufen sollen: „Hey, you guys, let’s have a party!“ Dann hätte man diese insgesamt eineinviertel Stunden Lebenszeit amüsanter verbringen können.Im Beisl nebenan, zum Beispiel.