Das Gespenst Wirklichkeit

Visitors Only: das neue Tanzstück von Meg Stuart im Zürcher Schiffbau uraufgeführt

Theater Heute 1 Jun 2003German

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Ein schöner Raum sei das, sagt das Gespenst ganz höflich und zuvorkommend und wirft einen scheuen Blick über die Bühne. So schöne Farben habe es hier, und die Atmosphäre sei auch so nett. Vor allem aber habe er ja einen so tollen Ausblick von hier oben auf seinem Platz an der Wand über der Tür, die ins Nichts führt. Unten in der anderen Hälfte des aufgeschnittenen Hauses, das Anna Viebrock auf die Bühne der Schiffbauhalle in Zürich gestellt hat, ruft ihm ein netter Herr mit einem Buch in der Hand Namen zu. Nein, den kenne er nicht, und jener schulde ihm noch Geld, antwortet das Gespenst und trinkt einen Schluck aus seiner weißen Kaffeetasse, die plötzlich mit stockenden Bildern vor seinem Gesicht erscheint. Das Gespenst ist eine Videoprojektion, bei der die Synchronisation verrutscht ist, doch der Mann mit dem Buch, der ist echt.

In Meg Stuarts Stück Splayed Mind Out, das 1997 zusammen mit dem Videokünstler Gary Hill entstanden ist, standen sich Mensch und Bild noch sprachlos gegenüber. Mit hilflosen Gesten versuchten die Tänzer damals Kontakt mit ihrem Anderen aufzunehmen, doch eine unsichtbare trennende Wand ließ die beiden Königskinder nicht zueinander kommen. Aus der vorsichtigen Annäherung ist sechs Jahre später in ihrem neuem Stück Visitors Only, das am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde, wo Meg Stuart seit zwei Jahren Artist in Residence ist, eine unheimliche Begegnung der dritten Art geworden. Ihre Tänzer und Chris Kondeks Videobilder kommunizieren fröhlich miteinander als sei es das normalste auf der Welt. Doch was heißt hier Mensch, was Bild? Zwei Männer in nahezu identischen Schuluniformen bewegen sich im ersten Stock spiegelbildlich wie zwei Magneten auf immer gleichen Abstand um die Mittelachse des doppelstöckigen Hauses herum, bevor sie plötzlich die Seiten wechseln und durch die Wand hindurchgehen. Wer das Abbild von wem, wer Original, wer Fälschung ist, bleibt unentscheidbar.

Schon einmal, in einer Szene ihres über fünf Städte verteilten Großprojekts Highway 101, hatte Meg Stuart ein Haus in ein choreographisches Feld verwandelt und dabei die Zuschauer wie Voyeure vor den Fenstern sitzen lassen, wo Körper auf geheimnisvollen Wegen verschwanden, nur um woanders unerwartet wieder aufzutauchen. Für Visitors Only wirft sie einen Blick hinter die Fassade. Anna Viebrocks Bühne ist ein richtiges Geisterhaus mit acht Zimmern, in dem die Türen waagrecht durchgeschnitten sind, so daß sich die Türgriffe kurz über Bodenhöhe befinden, in dem die Wände durchlässig sind und die Böden Löcher haben, durch die schon mal ein Tänzer nach unten fallen kann. Es ist ein Haus für die Unbehausten, ein Raum für die nicht Verorteten, ein Ankerplatz für die Flüchtigen. Die vier hinteren Räume sind durch fensterartige Durchbrüche in der mittleren Trennwand einsehbar. Wie kleine Kinoleinwände rahmen sie die Aktionen der Tänzer, schneiden ihnen mal den Unterkörper, mal das Gesicht ab. Wenn die unteren und oberen Räume gleichzeitig bespielt werden, ergeben sich grotesk montierte Körperbilder, die sich über die Raumgrenzen hinwegsetzen. Kleine Anspielungen auf einschlägige Filme über Untote und Wiedergänger wie Stanley Kubricks The Shining oder The Others mit Nicole Kidman verstehen sich hier beinahe von selbst.

Auch in Visitors Only sind Meg Stuarts alte Themen, an denen sie nun schon seit zwölf Jahren kontinuierlich und mit immer neuen Wendungen arbeitet, wie Gespenster präsent. Das Gefühl, sich nicht selbst zu bewegen, sondern von unsichtbaren Kräften bewegt zu werden, das plötzlich Befallen des Körpers mit Erinnerungen, die, je nach ihrer Position im Raum, andere sind - Meg Stuart war es nie um die Psyche ihrer Figuren zu tun, sondern um ihre Körper, auf deren Oberflächen sich aktuelle gesellschaftliche Befindlichkeiten Bahn brechen. Diese aufzuspüren und in verstörende und unheimliche Bilder umzusetzen beherrscht sie nach wie vor wie kein zweiter Choreograph der zeitgenössischen Tanzszene. Die schwächeren Szenen des Stücks sind dann auch diejenigen, die, wie die Partyszene, in der trunkene Gäste aneinander vorbeitorkeln, in ihrer sozio-psychischen Dimension ans Tanztheater erinnern. Doch Meg Stuart kann auch ihnen eine gewisse Komik abgewinnen, indem sie die Wahrnehmung weg von der konkreten Situation auf deren verschrobene und bizarre Bewegungen lenkt.

Die Irrealisierung der Wirklichkeit, das Auflösen von Raum und Zeit durch moderne Kommunikationsmedien und Tarnsportmittel, das unscheinbare Durchdringen von privaten und öffentlichen Räumen in einer Kontrollgesellschaft, die die Menschen von überall her erfaßt und beobachtet, ohne selbst lokalisierbar zu sein, treibt sie auch in Visitors Only um. Dazu erfindet sie eine Wirklichkeit, die für die Menschen unerreichbar irgendwo da draußen existiert und durch die sie sich, ohne Erinnerung, hindurchbewegen wie Außerirdische, Gäste oder Besucher eben, die nicht dazu gehören. Eindrücke können sie nur noch verzerrt und verzögert wiedergeben, sie sind zu Medien für etwas geworden, was sich ihrem Bewußtsein und Einflußnahme entzieht.

Um dieses Gefühl bei ihren Tänzern zu erreichen, arbeitet sie mit körperlichen Zuständen, wie etwa der Trance. Gleich zu Beginn sehen wir ihre famosen acht Tänzer, die maßgeblich an der Realisierung von Stuarts Konzept beteiligt waren (Loup Abramovici, Simone Aughterlony, Joséphine Evrard, Antonija Livingstone, Sam Louwyck, Andreas Müller, Vania Rovisco und Thomas Wodlanka) in der unteren linken Kammer mit dem Rücken zum Publikum auf der Stelle hüpfen als wollten sie jeden Moment abheben und davon fliegen. Allmählich werden die Sprünge höher, bis sich das gesamte Feld auflöst und die Tänzer durch die Zwischenräume des Hauses verschwinden. Lange dehnt Stuart ihre Szenen, bis es für Publikum wie Tänzer wirklich an Grenzen geht, bevor sie sie ebenso plötzlich bricht und in eine andere Stimmung kippen läßt.

Gegen Ende wird ein Hypnosependel auf das Haus projiziert. You can erase my memory, sagt eine Frauenstimme, während die suggestive und packende Musik von Paul Lemp und Bo Wiget – Gitarre und Cello elektronisch verstärkt und bearbeitet – sich dazu aus einem kleinen Orchestergraben vor der Bühne in schwindelnde Höhen schraubt. Allein und paarweise, in rotierenden Konstellationen tanzen die Tänzer in den Zimmern, fassen sich an den Händen, am Hals, winden sich um ihre Körper, stützen sich gegeneinander ab und drehen sich dabei bis zur Erschöpfung schier endlos im Kreis.

Immer wieder werden Träume erzählt und deren Deutungen gleich mitgeliefert. Die Texte stammen von Tim Etchells, dem Leiter der Gruppe Forced Entertainment, und Damaged Goods, wie Meg Stuart ihre Gruppe nennt. Hatten sie jemals das Gefühl, daß das Leben unwirklich ist, daß die Szenen verschwommen sind? Wenn ein Kind diesen Traum träume, bedeute das Veränderung. Wenn Meg Stuart ihn träumt, entsteht dabei ein großartiges Tanzstück.