In der Haut einer Eisprinzessin

Frankfurter Allgemeine Zeitung 16 Jun 2003German

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Am Vormittag vor der Premiere hatten Georges Delnon, Intendant des Staatstheaters Mainz, und Professor Jürgen Zöllner, Minister für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur in Rheinland-Pfalz, allen Grund zur Freude. Allen Gerüchten über einen Weggang aus Mainz zum Trotz kündigten sie an, daß Martin Schläpfer seinen Vertrag als Ballettdirektor am Staatstheater Mainz noch einmal um zwei Jahre bis zum Ende der Saison 2005/06 verlängern würde. Bessere Arbeitsbedingungen hat er sich ausbedungen, einen permanenten zweiten Probenraum wird es geben und wohl auch zusätzliche finanzielle Mittel, die es dem Ballettchef erlauben, nicht mehr jeden Ballettabend selbst choreographieren zu müssen. In der nächsten Spielzeit sind allein fünf Uraufführungen von Schläpfer-Balletten angekündigt, ein Arbeitspensum, das auch den Stärksten auf Dauer umhauen muß.

Programm XII, die letzte Premiere der laufenden Spielzeit, teilt sich Schläpfers Uraufführung von Musica ricercata zur Musik von György Ligeti mit einer Neueinstudierung von Nils Christes Purcell Pieces. Beide Stücken sind dem holländischen Stil verpflichtet, auf den Martin Schläpfer sich während seiner vier Jahre am Rhein zunehmend eingependelt hat und den sein mittlerweile bewundernswert homogenes Ensemble mit stets wachsender Kraft und Sicherheit tanzt. In Musica ricercata ist er mit seiner entschlackten Klarheit dem von ihm verehrten Hans van Manen so nahe wie nie zuvor.

Was sich schon bei Schläpfers letztem Stück, seinem ersten Handlungsballett Der Feuervogel, ankündigte, setzt sich in Musica ricercata aufs Schönste fort. Die bodenlose Emotionalität und Aufgewühltheit, die in der Vergangenheit schon manche seiner Choreographien zerrissen haben, ist einer neuen Zuversicht und Festigkeit gewichen, die seinen Stücken jedoch nichts von ihrer sympathischen Offenheit nimmt. Der etüdenhafte Charakter von György Ligetis Musica ricercata, die der Komponist Anfang der fünfziger Jahre noch vor seiner Ausreise in Ungarn komponierte, unterstreicht einerseits Schläpfers Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und gibt ihnen andererseits auch den nötigen formalen Halt. Wo Ligeti oft nur mit einem Ton oder wenigen einfachen Tonfolgen arbeitet, die er auf den Minimalismus vorausweisend moduliert und variiert, entdeckt Schläpfer inmitten strenger Reduktion für sich und seine Tänzer eine große Freiheit.

Was er in diesem Spannungsfeld auslotet, sind kleine formale und inhaltliche Experimente, die der neo-klassischen Grundierung des Tanzes eine persönliche Note geben. So darf Nick Hobbs zum Cantabile den Mund zum stummen Gesang öffnen und schließen, während er mit leicht einwärts gedrehten Beinen auf der Bühne steht. Marlucia do Amaral beginnt ihr Vivace ohne Musik, streckt und spreizt sich; runde Rücken und hängende Schultern sind ebenso zu finden wie schwierige Hebungen und falsche Abgänge.

Gleich zu Beginn betritt Yuko Kato die Bühne von links, während fünf Tänzer auf der rechten Seite auf kleinen Trittleitern stehen und ihre gestreckten Körper nach vorne beugen als sehnten sie sich nach ihr. Zwei Männer rutschen mit weit vorgestrecktem Becken die Leiter hinunter, bevor sich alle fünf bäuchlings mit kräftigen Armbewegungen auf sie zu bewegen. Doch überraschenderweise geht Kato durch die Gruppe hindurch wie eine unberührbare Eisprinzessin. Dafür entspinnt sich ganz dicht an der Rampe ein zärtliches Duo zwischen zwei Männern auf Knien mit dem Rücken zum Publikum, während zu Ligetis harten Anschlägen im Hintergrund Takuya Sawa mit ihrem linken Bein ständig einknickt. Dreimal erscheint in der Tiefe des Raums ein Kind, das aus der Zukunft verwundert auf die Menschen und ihr Treiben blickt.

Keso Dekker hat für Schläpfers intelligente Miniaturen eine Bühne aus transparenten Seitenwänden gebaut, die Gassen für Auf- und Abgänge bilden. Ihre Kühle wird durch punktuelles weiches Licht regelrecht zum Leuchten gebracht. Die eng anliegenden Trikots, in die er die Tänzer gesteckt hat, schimmern in Schwarz-, Weiß-, Gold- und Silbertönen wie eine zweite Haut, die ihren Körpern wie der gesamten Aufführung einen ungreifbaren Glanz verleiht.

Der suchende, tastende Gestus geht Nils Christes Purcell Pieces, dem zweiten Stück des Abends, das einer vergleichbaren Nummerndramaturgie folgt, völlig ab. 1997 in Arnheim uraufgeführt, hat es nun Annegien Sneep mit der Mainzer Kompanie einstudiert. Es ist das weitaus gefälligere Stück, das gleichzeitig die Neigung des holländischen Stils zum puren Ästhetizismus nicht von sich weisen kann. Zu 22 Arien und Tänzen aus Opern von Henry Purcell bewegt sich das Ensemble des ballettmainz vor allem in Bodennähe. Mit dem Rücken zum Publikum, auf dem Boden sitzend mit aufgestellten Beinen und angewinkelten Armen, rollen und drehen sich die Tänzer und Tänzerinnen zur Seite oder rutschen auf den Knien umher. Auch hier gibt es immer wieder schöne Duos, wie das zwischen Nick Hobbs und Kirsty Ross zu If Music be the Food of Love. Doch Christe opfert das Potential, das in den zum Teil recht drastischen Texten der Arien steckt, für einen tänzerischen Formalismus, der alles gleichmacht und glattbügelt.