Im Garten der Lüste

Theater Heute 1 Dec 2000German

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Der Anfang ist schön. Wenn das Licht angeht, liegt ein nackter Mann bäuchlings auf dem Bühnenboden. Eine Stuhlreihe links, eine Stuhlreihe rechts flankieren die offene Bühne, die nach hinten von einer großen Prospektwand abgeschlossen wird. Langsam taucht vor unseren Augen das Meer auf. Später wird eine Videoprojektion das Bild der Wellen in Bewegung versetzen und ein Boot darüber schicken. Ein tiefer Graben, in dem im Verlauf des Abends nackte und halbbekleidete Körper auf- und abtauchen, verbindet die Leinwand mit einer zweiten flach auf dem Boden liegenden Fläche. Eine Frau erhebt sich und beginnt, den Mann sanft über den Rücken zu streicheln. Sein Körper genießt es, er hebt sich leicht vom Boden und dreht sich genüsslich um. Das Berühren wird durch eine zweite Frau und einen Mann fortgeführt, bis jemand eine der Frauen schnappt, sie einfach auf den Kopf stellt, um mit ihren langen Haaren den Körper des Schläfers zu liebkosen. Das alles ist ebenso lakonisch wie entspannt, so spannend wie wirkungsvoll.

Doch schon bald wird es hektisch im Saal A der Schaubühne. Vier Tänzer und vier Tänzerinnen liegen auf dem Rücken, atmen mit dem Zwerchfell, dass sich ihre Bäuche grotesk nach oben wölben. Münder saugen sich daran fest, um sich schmatzend wieder abzulösen. Acht nackte Körper liegen auf der Seite und strampeln wild mit den Beinen.

Sasha Waltz ist die Popularisiererin des zeitgenössischen Tanzes. Sie macht schwierige Sachverhalte auf unterhaltsame Weise einfach. Bevor sie zum Leitungsteam der Schaubühne am Lehniner Platz gehörte, hat sie nie Körper, höchstens Menschen erkundet. Das unterscheidet sie von ihren ungleich radikaleren Kollegen wie Jérôme Bel, Xavier Le Roy oder Meg Stuart. Wo diese an einer körperlichen Verknüpfung von Tanz und Choreografie mit Sprache, Bild und Denken arbeiten, recherchierte Sasha Waltz das Leben in ostdeutschen Plattenbausiedlungen oder auf dem russischen Land. Konkrete menschliche Lebenswelten waren ihr in der Tradition des deutschen Tanztheaters stets näher als abstrakte Denkprozesse und deren konkrete Umsetzung am Körper. Für Körper hat sie sich zum ersten Mal den Körper als biologisches Material vorgenommen, um ihn und sein Verhältnis zu Raum und Geschichte zu erforschen. Dass nicht alle Bilder, die sie dafür fand, neu waren, sah man ihr nach. Schließlich arbeitet sie an der Vorzeige-Schaubühne und nicht im Avantgardekeller. Körper sah zumindest gut aus.

S, als Antwort auf Körper gedacht, weil in ihm all das untersucht werden soll, was in Körper ausgeblendet blieb, sieht dagegen nicht mehr so gut aus. Trugen die Tänzer und Tänzerinnen in Körper allesamt Unterhöschen, damit auch ja niemand auf unsittliche Gedanken kam, sind sie in S alle nackt. Zumindest am Anfang. Denn um Sexualität, Sinnlichkeit und gar um Geschlechtlichkeit soll es diesmal gehen, um eine unschuldige Lust am Berühren und Erkunden des eigenen und des anderen Körpers. Doch S wirkt inkonsequent und inkohärent, als vertraue die Choreografin, die zusammen mit Heike Schupelius auch für die Bühne verantwortlich zeichnet, ihrer eigenen Idee nicht. Das Erkunden des Körpers und seiner Funktionen gibt sie schnell wieder zugunsten von nichtssagenden Nettigkeiten auf. Bei Sasha Waltz sieht es immer nur so aus wie. Zu erzählen hat sie deshalb auch wenig. Zu Tage fördern ihre Bilder nichts. Stattdessen nimmt sie ihre Inspiration, von wo immer sie sie bekommen kann, reduziert alles auf den visuellen Effekt, ohne den Gedanken, der die zitierten Bilder formt und trägt, mitzutransportieren.

Was nach der ersten Szene noch eine Reihe einfacher, unspektakulärer aber schöner Miniaturen hätte werden können, mündet bereits beim zweiten Bild in allzu vertraute Gewässer. Aus der Seelandschaft ist ein grauer Raum geworden, vor dem sich Paare begegnen. In einer einfallslosen Licht-aus-Licht-an-Dramaturgie verändern sie ihre Position, kommen sich näher oder umarmen sich mit ausgestreckten Armen. Der umlaufende Sound aus Motorgeräuschen des ersten Teils macht einem warmen Gitarrenspiel Platz (Musik: Jonathan Bepler). Es menschelt wieder, und Sasha Waltz erspart uns in der Folge kein Klischee des deutschen Tanztheaters. Gespenstische nackte Körper auf der Leinwand nähern sich ihren leibhaftigen Pendants auf der Bühne, beginnen aber nur halbherzig mit ihnen zu tanzen. Lieber legen sie stattdessen einen Rock’n’Roll im Petticoat und einen Tango mit nackten Beinen aufs edle Parkett. Warum also das Video von Eve Sussman und Heike Schupelius, wenn damit nichts gemacht wird? Ein Mann mit Stöckelschuhen wandert über die Bühne wie einst Jan Minarek bei Pina Bausch. Vor einer Aussichtsplattform auf einem Flughafen, der so trostlos aussieht wie ein Gemälde von Edward Hopper, springen die Tänzer in den Graben, nur um sich gleich wieder aus ihm herauszuquälen. Ein Vortänzer bugsiert sie schließlich alle wieder von der Bühne. Ein Mann wird von den Frauen in schwarzer Unterwäsche kreischend umzingelt. Zu orgiastischem Stöhnen prallen die Geschlechter aufeinander, bis die Männer, ihre ganze Pracht mit einer Hand verdeckend, zwischen den Damen umherlaufen wie aufgescheuchte Gockel. Sasha Waltz Bilder verstören nicht. Sie sind gefällig und leicht aufzulösen. Ein Mann und eine Frau walzen einen Klumpen Teig, und Sasha walzt ihr eigenes Stück platt.

Zum Schluss holt die Choreografin noch einmal aus. Inspiriert von Hieronymus Boschs Gemälde Der Garten der Lüste, schwimmen über eine paradiesische Urlandschaft Giraffen, Elefanten, Nashörner und allerlei kleine Fantasietierchen. Ein Tisch, unter dem mysteriöse Perücken hängen und auf dem eine Reihe von Flaschen steht, senkt sich von der Decke. Jemand gießt die weiße milchähnliche Flüssigkeit über dem Kopf einer Frau aus, die ihre Hand zum Schutz wie einen Schirm über sich hält. Ein Paar nimmt einen kräftigen Schluck und bespuckt sich, und die beiden Teigwalzer setzen sich, den duftenden Teig als Kostüm am Leib tragend, an die Rampe. Doch die Sinnlichkeit, die die Materialien in Sasha Waltz’ Land, in dem Milch und Honig fließen, versprechen, ist eher einer puritanischen Ängstlichkeit geschuldet als ausgelassener Freude. Ein genauerer Blick auf Boschs perfides Gemälde-Puzzle, auf dem keine Perversion ausgespart ist, hätte beim Erkunden der Lüste sicher geholfen. Doch Sasha Waltz schaut nirgends genauer hin. So steht S hier nicht für Sex, Sünde und Sinnlichkeit, sondern für spießig. Auch der Name der Choreografin fängt mit S an: It’s Sasha with a Ssssssssssssss - zum Wegdösen.