Viertausend Arbeitsstunden für 27 Minuten

Das Nederlands Dans Theater II gastiert bei den Wiesbadner Maifestspielen

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 22 May 2003German

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Als die Jahrhunderthalle in Höchst noch ein eigenständiges Kulturprogramm ausrichtete, waren sie dort regelmäßige und beliebte Gäste in den Ballettreihen. Zu letzt sah man die Juniorkompanie des Nederlands Dans Theaters, NDT II, in der ausschließlich junge Tänzer zwischen 17 und 22 brillieren dürfen, vor zwei Jahren in der Alten in Oper in Frankfurt, wo sie mit gleich zwei Programmen einen ausführlichen Tourneestop einlegten. Jetzt zeigten die jungen Tänzer und Tänzerinnen auf Einladung des Intendanten des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Manfred Beilharz, zum ersten Mal ein Programm im Rahmen der Maifestspiele.

Die Klammer des vierteiligen Abends bildeten Jiri Kylians 27’52’’ aus dem Jahr 2002 und das von Paul Lightfood zusammen mit Sol Leon choreographierte Subject to Change. Obwohl beide Stücke im Abstand von einem Jahr entstanden sind, wirken sie hier wie bewußte Repliken aufeinander. Kylians Stück trägt im nüchternen Titel die Zeit, die das Stück dauert. Sind über 4.000 Arbeitsstunden von allen Beteiligten in die Produktion geflossen, beläuft sich das für die Zuschauer sichtbare Resultat gerade mal auf 27 Minuten und 52 Sekunden. Das Stück ist eine Art Autopsie des Tanzbetriebs auf kahler Bühne unter zum Teil kalten Neonlicht. Als solches ruft es unweigerlich Assoziationen zu William Forsythes Erkundungen des Balletts wach, die jedoch mehr dem Thema als der Ausführung geschuldet sind.

Ein Tänzer tritt aus der Tiefe der Bühne hinter eine Tänzerin, die in der Raummitte postiert ist. Ein schmaler Streifen Tanzboden wird nach oben gezogen und verdeckt die beiden, so daß nur noch die Arme vor der weißen Trennwand erscheinen. Die ausladenden lang gestreckten Bewegungen der sechs Tänzer werden immer wieder unterbrochen, der Tanzboden gelüftet und in Wellen geschlagen. Einmal packt ein Tänzer seine Partnerin in dem Boden ein und umarmt sie. Doch sie verläßt die Form und läßt ihn mit dem Teppich im Arm alleine zurück. Dazwischen sind Texte in verschiedenen Sprachen zu hören, die rückwärts wieder eingespielt werden. Sie erzählen von der Seele, die der Tänzer zeigen soll und dem Blick des Zuschauers während der Vorstellung. Doch zwischen die Seele, die im Tanz aufblitzt, schieben sich hier immer wieder die Ansprüche und Realitäten des Betriebs. Am Ende fallen die drei Tanzteppiche krachend von den Stangen zu Boden, wo vorher noch ein wunderschönes Duett zu sehen war.

Liefert Kylian mit 27’52’’ das Gerüst eines Stücks, füllen es Paul Lightfood und Sol Leon im konventionellen Sinn aus. Verwendet Kylian Themen aus Mahlers 10. Sinfonie, die von Dirk Haubrich elektronisch verarbeitet wurden, lassen Lightfood und Leon zu Schuberts Der Tod und das Mädchen im Arrangement von Gustav Mahler tanzen. Der Tod wird hier als Passage über einen roten Teppich beschrieben, den vier Herren im Anzug zu Beginn nach hinten rollen, wo der Tod ihn mit seinem Tanz ausbreitet, bevor ihn das Mädchen von hinten kommend betritt. Marthe Krummenacher und Medhi Wallerski zeigen alle Nuancen der Hingabe, der Lust und des Kampfes, während der Teppich unter ihnen gedreht und an den Rändern auch mal aufgehoben wird. Am Schluß rollen die vier den Teppich wieder auf und das Mädchen bleibt vorne vor ihm stehen. Dazwischen war neben Lightfoods Klassiker Skew Whiff, in dem er in seiner typischen Bewegungssprache aus krummen Rücken und rollenden Köpfen, tiefen Plies und hängenden Armen die Jagdlust dreier Männer auf eine Frau zu einer affenartigen und affenartig komischen Veranstaltung macht, auch ein vierminütiges Duett zu sehen. Shutters Shut treibt zu einem rhythmischen Gedicht von Gertrude Stein Lightfoods und Leons ebenso spitzfindigen wie wendigen, flüssigen und doch isolierten Bewegungen zu einer herrlichen Pointe.