Echt stark, dieser schwache Tanz

Uraufführung von Jonathan Burrows und Jan Ritsemas Tanzstück „Weak Dance Strong Questions“ im Frankfurter Mousonturm

Frankfurter Allgemeine Zeitung 10 May 2001German

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Bei den Choreographien des britischen Tänzers und Choreographen Jonathan Burrows muß man zwei Mal hinschauen. Oft nur wenige Minuten lang, präsentieren sie sich derart klein und kleinteilig, daß man ihre Besonderheit zunächst gerne übersieht. Eine unscheinbare Choreographie für einen Finger, der über den Oberschenkel des Choreographen huscht, ein filigranes Spiel der Hände und ein Gehen mit durchgestreckten Beinen: gerne isoliert und lokalisiert Burrows die Bewegungszentren in den einzelnen Körperteilen, nur um sie anschließend systematisch aufeinander aufbauend wieder zusammenzufügen. Dabei unterwirft er den tanzenden Körper gern einem fremden äußeren Zeitmaß, das nicht dem biologischen Rhythmus der Atmung oder dem natürlichen Fluß der Bewegung folgt. Widerständig geworden, setzen sie die Textur der Choreographie unter Spannung. Wie in seinem Paradestück, The Stop Quartet aus dem Jahr 1996, das die vier Tänzer unter das Joch eines Metronoms zwang, liegt das Geheimnis seiner Choreographien im Aussetzen des Tanzes, in der Unterbrechung, aus der die Bewegung neu hervorgeht.

Gemeinsam mit dem flämischen Theaterregisseur Jan Ritsema, der seit über zehn Jahren am Brüsseler Kaaitheater arbeitet und bei Meg Stuarts Crash Landing-Projekten Erfahrungen als Tänzer gesammelt hat, hat Burrows nun ein Stück entwickelt, das nur aus Unterbrechungen und Rissen besteht. Ritsemas ungewöhnliche Art, auf der Bühne offene Situation zu schaffen, hat die beiden, die auch als Lehrer Anne Teresa de Keersmaekers Schule P.A.R.T.S. in Brüssel arbeiten, für ihr Projekt zusammengeführt. Über den langen Zeitraum von einem Jahr entstanden, präsentiert sich Weak Dance Strong Questions auch bei seiner Uraufführung im Frankfurter Mousonturm weniger als abgeschlossenes Werk denn als offener Prozeß.

Borrows und Ritsema haben dafür auf jegliche Theatralisierung des Tanzes verzichtet. Das Licht im leergeräumten Theatersaal bleibt während der fünfzig Minuten, die das Stück dauert, an. Die Zuschauer können sich ihre Stühle selbst entlang der Tanzfläche auf ebener Erde plazieren. Keine Musik sorgt für die emotionale Unterfütterung der Szene – ein Novum für Burrows, der sich, in dieser Hinsicht ganz der traditionelle Ballettkünstler, noch in seinen minimalsten Choreographien immer an der Musik orientierte. Fast unbemerkt mischen sich Jonathan Burrows und Jan Ritsema, beide in Straßenkleidung, unters Publikum und beginnen, mit kleinen Schritten und einem vorsichtigen Tasten mit den Armen sich den Raum zu nehmen.

Ein kleines Vorpreschen des Kopfes, instabile Balancen, ein Absinken und wieder aufrichten, Schieflagen, Verdrehungen des Oberkörpers und des Rumpfes, als wollten sie die Körper in unmögliche Positionen bringen, aus denen sie sich nur durch Abbrechen befreien können: Bewegung entsteht hier aus einer geistigen Haltung des „starken“ Fragens heraus, eines Fragens allerdings, das sich nicht auf konkrete Inhalte reduzieren läßt. Durch ihre ungewöhnliche und unrepräsentative Form thematisieren sie die Produktions- und Rezeptionsweisen von Tanz und die damit verbundenen Erwartungshaltungen. Auf ihre Fragen geben Burrows und Ritsema keine Antworten. Sie lassen alles offen, während sie gleichzeitig alles offen legen. Nüchtern und spröde geht es hier zu. Jeglicher Anflug von Illusion wird vermieden. So dauert es eine Zeit, bis das Gezeigte seine Faszination überhaupt entfaltet. Auch in Weak Dance Strong Questions muß man sich Burrows fremden Zeitmaß anpassen, bevor man darin eine große Freiheit entdeckt.

Jede Bewegung wird im Ausführen gleichzeitig zurückgenommen. Es gibt keinen logischen Anschluß, keinen Aufbau, der zu einer Choreographie im traditionellen Sinn führen könnte. Das aus dem Moment heraus und in jedem Moment sichtbar neu entstehende Material erzeugt so einen schwebenden Zustand, der, sieht man von einigen wenigen Forcierungen und Beschleunigungen einmal ab, von gleichbleibender Dynamik und Phrasierung ist. Nichts sticht hervor. Alles ist gleichwertig. Zu Boden geht hier kaum einmal jemand. Und in die Luft schon gar nicht. Burrows und Ritsema suchen die reine Gegenwart, die die moderne Kunst wie ein Phantasma begleitet. Für sie liegt das Besondere an der Präsenz weniger in einer epiphanieartigen Erfüllung, die den Moment selbstgenügsam abschlösse, als in ihrem Potential, Handlungsmöglichkeiten und – spielräume zu eröffnen. Jeder Schritt, den die beiden tun, führt ins Ungewisse und Ungesehene. Borrows und Ritsema eröffnen dem Tanz damit ein riesiges unbestelltes Feld an unverbrauchter und spannender Bewegung.

Die Körper der beiden Tänzer, die sich auf der leeren Fläche umkreisen, annähern und wieder entfernen, ohne daß es dabei erkennbare Absprachen gäbe, werden dabei selbst zu Fragezeichen. Sie bedeuten nichts, stehen für keine Emotionalität. Ein solches Stück ist auch vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Tanzes mit seinen virtuosen Techniken, die das Publikum überwältigen und mitreißen, in der Tat ein „schwacher Tanz“. Darin aber liegt genau seine Stärke. Indem die Körper völlig unlesbar werden, verfielfältigen sie explosionsartig Fragen und mögliche Antworten im Bewußtsein der Zuschauer. Eine regelrechte Öffnung und Übereignung des Tanzes ans Publikum findet statt, dem es selbst überlassen bleibt, choreographische Muster zu finden. Jonathan Burrows und Jan Ritsema eröffnen einen Raum, den man über das im Theater übliche Maß hinaus mit den Tänzern teilen kann. Darin liegt, wenn man will, die formgewordene politische Implikation des Stücks. Mit Weak Dance Strong Questions haben die beiden das Weiß zwischen den choreographischen Linien zum Erscheinen gebracht, um diese neu ziehen zu können.