Im Moonwalk nach Elba

Die zwei Körper des Choreographen:Jerome Bel zeigt sein schwindelfreies Stück "Xavier Le Roy" im Frankfurter Mousonturm

Frankfurter Allgemeine Zeitung 12 Feb 2001German

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Mit Le dernier spectacle wollte er sich 1998 eigentlich nach nur drei eigenen Stücken aus der Tanzwelt verabschieden. Die letzte Aufführung sollte es sein, doch daraus wurde nichts. Wie aber weitermachen, wenn man seinen Rückzug programmatisch zum Thema des Stücks erhoben hat, das am Ende die Realisation der Choreographie ganz den Zuschauern überlassen hat?

Der französische Choreograph Jérôme Bel ließ darin die Eröffnungssequenz von Susanne Linkes Choreographie Wandlungen vier Mal wiederholen, bevor beim fünften Mal ein schwarzes Tuch den Tänzer verdeckte, so daß das Publikum den Tanz aus der eigenen Erinnerung ergänzen konnte. Jérôme Bel hat einen Trick gefunden, trotzdem weiterzumachen. Er hat seinen Kollegen Xavier Le Roy gebeten, eine Choreographie in seinem Sinne und mit seinen Tänzern zu entwickeln, die er dann signiert wie ein Maler ein Bild. So heißt die Choreographie, die nun im Frankfurter Mousonturm zu sehen war, zwar Xavier Le Roy nach dem Künstler, der sich das fremde Konzept zu eigen gemacht und realisiert hat. Als ihr Autor schlägt aber Jérôme Bel zu Buche.

Jérôme Bels Stücke sind stets auch ironische Spiele mit dem Konzept der Autorschaft. Der Autor ist bei Jérôme Bel nicht mehr länger ein autonomes schöpferisches Subjekt, das seine Kunst immer wieder neu aus dem Nichts schöpft, ein Mythos, der sich gerade in der französischen Tanzszene nach der kreativen Explosion der achtziger Jahre nach wie vor hartnäckig hält. Mit einem augenzwinkernden Verweis auf die Linguistik und die Semiotik eines Roland Barthes fungiert der Name Jérôme Bel, die Signatur des Autors, die seinem zweiten Stück den Titel gab, als diskursives Feld, auf dem sich verschiedene Codes aus allen erdenklichen kulturellen Bereichen kreuzen. Der Name des Autors ist nur mehr eine Hohlform, die sich wie ein zweiter Körper um den biologischen Körper des Choreographen lagert. An den choreographischen Körper Jérôme Bel mit seiner spezifischen Schreibweise können sich auch andere Künstler wie etwa Xavier Le Roy angliedern, um eine Textproduktion in Gang zu setzen, die der modernistischen Forderung nach Originalität und Einmaligkeit von Bewegung eine klare Absage erteilt.

Bel und Le Roy knüpfen mit ihren Arbeiten bewußt an die minimalistische Kunst der sechziger Jahre an. Sie reklamieren damit für den Tanz etwas, was in die Bildende Kunst spätestens mit Marcel Duchamp, Andy Warhols „Factory“ und den Arbeiten von Sol LeWitt, Charles Ross oder Robert Morris Einzug gehalten hat: Die Vorrangigkeit des Konzepts vor der Ausführung und Einmaligkeit des Werks. Die radikalen tänzerischen Experimente der sechziger Jahre, die in der Judson Church Gruppe gerade in Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern entwickelt wurden, dienen ihnen heute in einem veränderten gesellschaftlichen Umfeld wieder verstärkt als Anknüpfungspunkte, um als Tänzer und Choreograph, dessen Material der schöne Körper ist, Strategien zu entwickeln, die sich unserer Massenkultur der schönen Körper und der Bilderflut der Medien widersetzen.

Die Arbeiten von Xavier Le Roy und Jérôme Bel verhalten sich komplementär zueinander. Wo Le Roy in seinem Solo Self-Unfinished einen Ausweg aus der Inflation der Zeichen sucht, setzt Bel deren Wucherung mit Wonne in Szene. Zeigt der eine einen unmarkierten Körper, der sich permanent wandelt, um seiner Fetischisierung als Objekt zu entgehen, markiert der andere seine Körper bis zum völligen Identitätsverlußt. Dazu dienen ihm mit Slogans bedruckte T-Shirts wie in Shirtologie (1997) oder ein Lippenstift auf nackter Haut wie in Jérôme Bel (1995). Wie die beiden Enden eines Kreises treffen sich ihre Wege am Ende wieder in der unerreichbaren Utopie eines Körpers am Nullpunkt, der alle Zeichen in sich aufgenommen hat und sie dadurch übersteigt.

Ganz in Sinne einer minimalistischen Kunstauffassung spricht Xavier Le Roy weniger das sinnliche Erleben der Zuschauer an als deren Verstand und Wahrnehmungsvermögen. Im Gegensatz zu Bels früheren Stücken ist Xavier Le Roy in der Tat so etwas wie ein trockenes Lehrstück, das seinen choreographischen Ansatz und seine Art, den Körper als sprachlich fundierten zu denken, zugespitzt auf den Punkt bringt. Bei aller Sprödigkeit ist das nur 40-minütige Stückchen jedoch nicht ohne Witz. So beginnt die Aufführung mit Bernard Herrmanns Musik zu Alfred Hitchcocks Film Vertigo. Ein Scheinwerfer erhellt einen Stuhl und einen schwarzen Paravant, bevor plötzlich eine Gestalt in Turnschuhen, grauen Hosen, einem blauen Hemd und einer blonden Perücke, deren Haare das Gesicht verdecken, auf die Bühne stürmt. Sie rennt, die Hände aufgeregt an die Wangen gepreßt, um den Stuhl herum und fällt schließlich mit einem Schrei hinter dem Paravant zu Boden.

Wie der arme James Stewart in Hitchcocks Klassiker an den Abgrund gerät, weil er es plötzlich auf unheimliche Art und Weise mit der Doppelgängerin einer Frau zu tun hat, die er beschatten sollte, weiß der Zuschauer auch bei Xavier Le Roylange nicht, ob es sich um ein Solo oder ein Duo handelt. Nachdem die Musik verstummt ist, kommt die Figur hinter der Wand hervor und geht wieder ab. Mit jeder Wiederholung führt sie eine andere, leicht wiederzuerkennende Pose vor: den Gang von Charlie Chaplin, den Hitlergruß, Michael Jacksons Moonwalk, den gekreuzigten Jesus, Marlene Dietrich im Blauen Engel, den Sprung des Basketballers Michael Jordan, Napoleons Handhaltung und Marilyn Monroe über dem U-Bahnschacht, gefolgt von einfachem Auf- und Abgehen, Stehen, Sitzen und Liegen. Die Entfernung zwischen der Wand und dem Stuhl wird mit den Füßen vermessen, doch beim zweiten Mal stimmt der Abstand plötzlich nicht mehr, bis zur allgemeinen Überraschung eine zweite, identisch gekleidete Figur hinter dem Paravant hervor kommt. Nachdem das Geheimnis gelüftet wurde, wird die Zitat-Sequenz noch zweimal wiederholt: einmal mit Kleidung und einmal nackt, wobei die Ausführung der Posen durch Frédéric Seguette und Pascale Paoli nicht geschlechtsspezifisch erfolgt. Am Ende tritt eine grau verhüllte Gestalt auf, ein Neutrum, das alle entfalteten Differenzen zwischen dem ersten naiven und dem zweiten informierten Sehen, zwischen Mann und Frau, einfach schluckt.

Natürlich ist das, was Bel und Le Roy hier inszenieren, im Sinne von Vertigo auch ein Schwindel. Es ist ein Taumel von Identitäten, die nur noch aus den Archiven unseres kulturellen Gedächtnisses zitiert werden. Und ein Betrug an der Wahrnehmung der Zuschauer, die ständig dazu angehalten werden, minimale Differenzen abzugleichen, um Zwischenräume auszuloten. In der laborartigen Versuchsanordnung, die die choreographische Grundsituation bis aufs Skelett reduziert, kann der Körper ohne eigenes Gewicht je nach Kontext, subjektiver Erinnerung und individuellem Blick anders wirken. Das macht Jérôme Bels Xavier Le Roy bei aller hermetischen Strenge zu einer offenen, reichen Angelegenheit.