Will der Choreograf uns etwas sagen?

Wer sagt hier, dass im tanz irgendjemand was zu sagen hat, fragt Gerald Siegmund

Ballettanz 1 Mar 2003German

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Contextual note
This essay is the abridged and edited vesion of a paper given at the conference Moving Thoughts II at the Tanzarchiv Leipzig, November 2002.

Was der Autor uns damit sagen wollte, war uns lange Zeit klar. Aus der Unmittelbarkeit des Tanzes und seiner Flüchtigkeit, die seine Gegenwart immer wieder neu bestimmt, resultiert eine Form der gesteigerten Intensität und Wahrnehmung. Die körperliche Erfahrung das Tänzers überträgt sich auch auf die Zuschauer, in denen dadurch emotionale Zustände ausgelöst werden. Der Choreograph als Autor seiner Stücke formuliert durch die Tänzer seine Sicht der Welt, die sich uns durch die Sprache des Tanzes mitteilt.

Doch immer öfter fallen diese Garanten der Präsenz einfach aus. Körper, Bewegung oder gar der Autor selbst sind zu Leerstellen auf den Tanzböden geworden. Nicht nur Jérôme Bels Anspielungen auf die Funktion des Autors in fast allen seiner Stücktitel sind Belege dafür, dass liebgewordene Vorstellungen ins Wanken geraten. Auch William Forsythe nennt in Stücken wie Eidos:Telos oder Sleepers Guts die Tänzer der Kompanie als Choreographen. Für Hypothetical Stream verschickte er per Fax Fotokopien von Zeichnungen des Barockmalers Tiepolo, auf denen Wolkenballungen und Engelsgruppen zu sehen sind. Um die Gruppierungen herum malte er dicke Pfeile, die in alle Himmelsrichtungen zeigen. Die Pfeile dienen als Bewegungsvektoren, deren tatsächliche Umsetzung in Bewegung im Tanzsaal den Tänzern überlassen bleiben.

Wer hat diese Stücke choreographiert, und wem gehören sie? Methoden der Bewegungserzeugung wie das Übermalen von Zeichnungen basieren auf bestimmten Grundannahmen, die auf einen Urheber zurückverweisen. Doch wer ist dieser Autor, wenn er sein Werk nicht ausführt und an der Produktion als Person nicht beteiligt ist? Denn nur derjenige ist „authentisch“, der Urheber einer Handschrift, einer „cheirographia“, ist, wobei der Sprung zum Urheber einer „chorographia“ nicht weit ist. Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert hat man an Tänze auf dem Trockenen notiert und am Schreibtisch entwickelt, um ihre Rechtmäßigkeit in der Pariser Akademie überprüfen zu lassen, bevor sie aufgeführt werden durften. Die Macht und Autorität, die derjenige mit Handschrift besitzt, löst sich zunehmend von der eigenen Hand. Als authentische Äußerungen gelten Verträge, Handschriften, Schuldscheine, Testamente, also Dokumente mit Rechtskraft, die verbürgt sind.

Doch wer verbürgt hier noch was? Die Frage, was der Autor uns sagen will, drängt sich uns in dem Moment auf, in dem unsere traditionelle Vorstellung vom Autor als dem Urheber eines Werks ins Wanken gerät. Sie drängt sich auf, wenn es plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist, wer spricht, und damit die nahtlose Verstehenskette von Autor, Tänzer und Zuschauer durchtrennt wird.

2. Eine Präsenz

Was in all diesen Beispielen fehlt, ist einerseits eine klare Rollenzuweisung der am Produktionsprozess Beteiligten. Andererseits treffen wir hier, wie in den Stücken von Raimund Hoghe oder in Jérôme Bels The Show Must Go On, auf Tänzer, die entweder keine sind oder ihr Tänzersein auf ein Minimum reduzieren. Was fehlt, sind legitimierte Körper, die durch Ausbildung und Technik berechtigt sind, für uns zu tanzen. In dieser Vorstellung ist nach wie vor die christliche Vorstellung eine gefallenen Leibes, der durch die Seele gerettet wird, impliziert. Denn der tanzende Körper, der mit der Erbsünde belastet ist, kann nur durch den Geist oder die Seele gerettet werden. Nur sie macht ihn zum schönen edlen Körper. Im französischen Absolutismus hat Ludwig XIV mit der Gründung seiner Académie royale de danse die Ausbildung der Tänzer zum Politikum gemacht und seinen Staatsapparat direkt an die Stelle jenes Anderen gesetzt, den der Tänzer vertritt. Dieses Streben nach einem Anderen, der dem tanzenden Körper an sich fehlt, bleibt dem Tanz auch in einem anderen gesellschaftlichen und politischen Umfeld inhärent.

Mit Hilfe einer wie auch immer gearteten Technik erhält der Tänzer Zugang zum Bereich des Transzendenten, das in seinem Tanz augenfällig wird. Nicht umsonst bezeichnete sich Nijinsky in seinen Tagebüchern gerne als „Clown Gottes“. Selbst Martha Graham spricht in ihrer Autobiografie davon, dass der Tänzer ein „Athlet Gottes“ sei.

Jene metaphysische Präsenz wird im Werk evident. Der Kunsthistoriker Victor Burgin spricht in einem einzigen Gegenstand von massiver ideologischer Dichte, wie er es nennt, zusammen: dem Kunstobjekt. „The art object is the ‘human essence’ made form, ‘civilisation’ made substance.“ Beim Betrachten des Kunstwerks werden uns überzeitliche allgemein menschliche Werte schlagartig vor Augen geführt. Was der Autor uns damit sagen will, ist im vornhinein klar. Er verweist auf „the human condition“, wie es im angelsächsischen Sprachgebrauch so schön heißt. Doch wer der Mensch ist, dessen Bedingungen präsent gemacht werden, wird geflissentlich verschwiegen. Egal ob Frau oder Mann, Schwarz oder Weiß, Schwul oder Hetero - die „menschlichen Bedingungen“ sind für alle gleich, was natürlich einer Verschleierung realer gesellschaftlicher Verhältnisse gleichkommt.

Dieser Präsenz ausgesetzt, kann sich der Zuschauer ganz dem Genießen hingeben, das Stück „schön“ finden, die Tänzer „virtuos“, ihren Tanz „anrührend“. Die Experimente des Judson Dance Theatres in den USA oder des Tanztheaters in Deutschland - oft in enger Verbindung mit bildenden Künstlern entwickelt - hatten es sich zur Aufgabe gemacht, diese Art der Präsenz in die Luft zu sprengen. Dabei geht es um die reale Gegenwart des Hier und jetzt der Zuschauer und Tänzer im Theater und im Leben. Sie alle spielen um die Gegenwart, in der sie spielen.

3. Eine Abwesenheit

Die Tanzstücke, die sich in den vergangenen zehn Jahren zum Teil unter Berufung auf die Experimente der 60er und 70er Jahre, in der Öffentlichkeit als Konzeptkunst platziert haben, zeichnen sich durch markante Abwesenheiten auf dem oben skizzierten Feld der Präsenz aus. Natürlich entsteht beim Zusammenkommen von Tänzern und Zuschauern eine Bewusstsein von der gegenwärtigen durch die Kunst aufgeladenen Situation. Dass dabei immer Elemente auf der Bühne präsent sind, zwischen denen die Stücke ihr ästhetisches Spiel entfalten, ist ebenso selbstverständlich. Ihre Präsenz ist jedoch nicht mehr metaphysisch zu denken. Doch auch inmitten dieser zweiten, immanenten Präsenz klafft eine Lücke, die sich als Ort der kritischen Reflexion erweist. Egal ob es sich um die Person des Autors oder um für den Tanz so lebensnotwendige Funktionen wie Bewegung und Körper handelt – werden sie auf der Bühne durchgestrichen, beginnt sich die reflexhaft eingeübte Rezeption und Bewertung eines Tanzstücks als „schön“ oder „intensiv“ zu verschieben. Andere Wahrnehmungen werden plötzlich möglich, weil andere Fragen gestellt werden. Mit der Abwesenheit begibt der Tanz sich auf die Felder benachbarter Künste, um über den Umweg des vermeintlich Fremden das Eigene zu reflektieren. Wenn Thomas Lehmen sein Schreibstück wie einen literarischen Dramentext bei einem Verlag veröffentlicht, begibt er sich auf das Terrain des Theaters. Betrachtet man es als Spielanleitung, verweist er auf das Feld der Musik mit ihren Partituren, die man beim Verlag bestellen und einstudieren kann. Einen vergleichbaren Distributionsapparat von Texten hat sich im Bereich des Tanzes nur schwach ausgebildet. Lehmen wie Le Roy und Bel trennen den Autor von Choreographen. Sie nehmen ihn heraus aus dem Produktionsprozeß der Bühne, wo er spätestens seit der Moderne mit dem Körper der Tänzer-Choreographen verschmolzen ist. Mit seiner Abwesenheit im Feld des Tanzes erscheint er nicht mehr länger als ein authentisches selbstidentisches Subjekt, das sich oder seine Weltsicht ausdrückt. Er ist kein Autorengenie mehr, das eine universelle Wahrheit verbürgt. Vielmehr hat auch der Choreograph zwei Körper: seinen persönlichen Körper einerseits und seinen funktionalen Choreographenkörper anderseits. Dieser besteht aus einer Reihe von diskursiven Regeln, an den sich jeder angliedern kann, der die Spielregeln kennt und einhält. So choreographiert Xavier Le Roy in Namen des Autors Jérôme Bel ein Stück, das Le Roys Namen trägt. Doch die Art und Weise, wie er Bilder und Bewegungszitate aus dem Fundus unserer Kultur ohne Übergänge einfach nebeneinanderstellt, ist ganz die von Bel. Doch es könnte auch jeder andere tun. Schließlich ist das, was gesagt wird, wichtiger, als die Person, die es sagt.

Was damit auch deutlich wird sind die Implikationen, die hinter dem humanistischen Erbe den Autor nicht mehr länger in schöner Verklärung der Tatsachen ein verinnerlichtes Subjekt, eine schöne Seele, sein lassen. Er wird nüchtern als juristisches Subjekt betrachtet, das mit seiner Unterschrift vertraglich ein Werk garantiert, das auf dem Markt der Veranstalter einen gewissen Wert hat. Dass kollektive Arbeitsformen und Autorschaften bei Verträgen mit Veranstaltern und im Bewusstsein des Publikums nach wie vor einen schweren Stand haben, belegen zahlreiche Beispiele von Gruppen wie B.D.C. oder Hygiene Heute. Vertraglich muss in der Regel einer für das Stück einstehen.

Um die Abwesenheit des Autors, der Bewegung oder des Körpers auf der Bühne zu markieren, bedarf es oft eines Medienwechsels in Form eines Stücktextes oder einer Partitur, wie im Falle von Thomas Lehmen, oder in Form von Videobildern, mit der die spanische Künstlerin La Ribot im ersten „Still“ ihrer Serie Still Distinguished die Abwesenheit ihres tanzenden Körpers markiert. Betritt sie zu Beginn noch leibhaftig den Raum, um die über den Boden verteilten Monitore anzuschalten, zieht sie sich kurz danach zurück und überläßt uns ihrem Körper auf Video, den sie, eine Kamera in der einen, ein riesiges Brotmesser in der anderen Hand, in einer waghalsigen Aktion in ein leibhaftiges Brötchen verwandelt. Vincent Dunoyer verwendet in seinem Solo wider Willen The Princess Project eine Live-Kamera, die seinen Solotanz aufzeichnet. Im zweiten Teil des Stücks wird die Aufzeichnung auf der Bühne eingespielt, während die Kamera den an der Rampe tanzenden Dunoyer erneut einfängt, um sein Bild mit dem aufgezeichneten Bild auf der Leinwand zu verschmelzen.

Die durch das Medium Video markierte Abwesenheit einer Partnerin macht mithin nur deutlich, daß der tanzende Körper auf der Bühne niemals alleine ist auch wenn er ein Solo tanzt. Überlagert von Fantasien, Projektionen und Bildern ist er immer schon im Plural wenn er uns begegnet. Diese Spektralität des Körpers, die im Widerstreit zur Vorstellung eines realen Körpers steht, ist ein gesellschaftliches Produkt. So kommen wir über die Abwesenheit von Bewegung und Körpern doch wieder auf den Autor zurück. Denn das Resultat solcher konzeptioneller Versuche ist das Vermehren von Körpern, ihre Proliferation. Auch das beinhaltet das Wort „Autor“ bereits. Denn über die Vorstellung der Urheberschaft ist der „Authentische, „authentes“, der der, der eigenhändig vollzieht, aber auch der, der Hand an sich selber legt, auch mit dem lateinischen Wort „auctor“ verwand, was den Schöpfer eines Werkes bezeichnet. Impliziert ist darin die Vorstellung von „augere“, was „wachsen“ oder „mehren“ bedeutet. Ein Autor ist also jemand der (im rechtlichen Sinn Vermögen) vermehrt und fördert.

Was durch die Abwesenheit einer Form von Präsenz also geschieht, ist das Vermehren, nicht von Vermögen, sondern von Körpern, von Lesarten und Macharten. Die Abwesenheit von Bewegung und tanzenden Körpern setzt eine Produktion in Gang, die das Vermögen, also das Können des Tanzes, kritische und reflexive Praxis von Körpern über Körper zu sein, ins schärfere Licht rückt. Diese wundersame Vermehrung der Körper kann man selbstverständlich auch „schön“ oder „virtuos“ finden. Als Abwesender bleibt der Autor oder der Tänzer schließlich umso stärker im Gespräch. Doch kommt man um ein Verstehen der Einsätze und der Prämissen, unter denen solche Geschmacksurteile getroffen werden, mit dem bloßen Verweis auf die Präsenz der Tänzer nicht mehr herum.