Wie alt ist das Tanztheater?

Theater Heute 1 Jun 2002German

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„SechsSiebenAcht“: markig knallt der Schlachtruf durch die Industriehalle im Kölner Stadtteil Kalk. Eine Horde Männer und Frauen kniet auf einem Trampolin wie auf einem Gebetsteppich, die modischen Taschen geschultert, die Schuhe auf einem Handtuch vorne an der Rampe fein säuberlich in Reih’ und Glied aufgestellt. Meditativ in sich versunken heben sie immer wieder ihre Arme, sinken mit dem Kopf zu Boden und disziplinieren sich mit besagtem Kampfgeschrei selbst. Da sitzen sie nun in ihren blauen Kostümchen und blauen Stadtanzügen, Uniformierte der Bürogesellschaft, die ihre Individualität längst aufgegeben haben.

Joachim Schlömer, bis zum Ende der vergangenen Spielzeit noch Leiter des Tanztheaters Basel und seit nunmehr einem Jahr freier Choreograph, hat sich in seinen letzten Stücken wie Les larmes du ciel erfolgreich um die Verbindung von Tanz vor allem zur Barockmusik bemüht. Sein jüngstes Stück, das an den Bühnen der Stadt Köln uraufgeführt wurde, verzichtet bis auf ein paar Rockmusikeinspielungen zur Steigerung der Dynamik fast ganz auf Musik. Gemeinsam mit Schauspielern des Kölner Theaters und Tänzern untersucht er in Fit For Life den Fitnesswahn unserer Gesellschaft.

Jens Kilian hat ihm dafür ein Trampolin als Bühne auf der Bühne in die Halle Kalk gebaut, das sich nach hinten wegklappen lässt. An dessen Unterseite erscheinen riesige Scheinwerfer, während der Unterbau aus Holz den elf Darstellern als Trainingsstrecke dient. Durch die Kuhle des Holzkastens rennen sie in einer Reihe nach vorne und schleudern Slogans wie „Der Kampf für die Rohkost hat begonnen!“ oder „No pain, no gain!“ ins Publikum. Manchmal sind sie dabei auch so richtig selbstironisch und kommentieren Phrasen wie „Ich habe viel Energie“ mit „Höho- tschuldigung!“. Rechts am Rand kommt jemand nicht hinterher, wie überhaupt in fast jeder Szene einer oder eine aus der Reihe tanzt, was aber auch nichts macht, weil Schlömer daraus nichts macht.

Schließlich verlassen die Fitnesskämpfer die Sprintstrecke, verteilen sich links und rechts kniend im Raum und breiten ein kleines Handtuch vor sich aus. Aus ihren Taschen holen sie außer unbedeutendem Kleinkram auch ein paar Steine und kleine Kassettenrekorder, aus deren blechern klingenden Lautsprechern später die zwischen Lust und Schmerz changierenden Grunzlaute beim Sport die Szene erfüllen. Mit den Steinen fangen sie an, einen Rhythmus zu schlagen, geben die Idee aber ebenso schnell wieder auf wie ihre kleinen Schreine, die sie nutzlos in der Gegend herum stehen lassen. Statt dessen skandieren sie lieber Schwitters’sche Lautpoesie oder zitieren Nietzsches Reflektionen über den Leib aus Also sprach Zarathustra, während jemand ein Steak in einer Pfanne brät, um es dann in kleine Stücke zerteilt an die umstehenden Darsteller zu verteilen wie Hostien beim Abendmahl. Immer wieder grundiert Schlömer seine Szenencollage mit religiösen Motiven und spielt damit auf die Erlösungsphantasien an, die den Fitnessritualen und Selbsthilfepraktiken zugrunde liegen.

Vor einer Kamera beichtet eine Frau in einer angedeuteten Gruppentherapiesitzung atemlos hächelnd, dass sie vom Ficken nicht lassen kann und dabei doch immer Kotzen muß, was ihr und den Männern naturgemäß äußerst unangenehm sei. Eine andere Frau erzählt, wie sie zwanghaft von Hochhausbalkonen springen muss, bis ihr Körper völlig gelähmt und nur noch ihr Kopf am Leben sei. Gesicht und Oberkörper der Frauen werden dabei auf jeweils einen anderen Darsteller projiziert, dessen Kopf mit einem Tuch bedeckt ist – fremdgesteuerte Körperbilder von faszinierender Schönheit und brutalem Inhalt, deren Ambivalenz nicht aufzulösen ist. Nicht von ungefähr erinnern sie an Meg Stuarts Stück Alibi, das die Frage nach dem Verbleib des Körpers, nach Aggressivität und Individualität in Zeiten videoüberwachter Durchdringung von Privatem und Öffentlichem wesentlich wirkungsvoller und verstörender in Szene gesetzt hat.

Es sind trotzdem die besten Bilder in Schlömers Stücks, das ansonsten in einem Fluss austauschbarer banaler Szenen vor sich hin plätschert. Vermitteln sie doch wenigstens ein Mal an diesem Abend den zwingenden Eindruck eines Unbehagens am Körper, der gerade deswegen bezwungen werden will, einen Selbsthaß, der den Körper benutzt, um den Körper zu überwinden. Hier hätten dann auch die esoterischen Gebetsübungen ihrer Platz, wenn es Schlömer denn um das Herstellen von Zusammenhängen und um das spielerische Erkunden von Motivationen gegangen wäre. Statt dessen setzt er ganz auf einvernehmliches Wiedererkennen auf Seiten der Zuschauer. Schließlich war jeder schon einmal irgendwie unzufrieden mit seinem Aussehen. Hätten sie’s gewusst? Fettabsaugen ist, denkt man einmal genau darüber nach, eigentlich eklig. Und die Menschen wollen in ihrem Fitnesswahn ewig jung aussehen. Ja, ja, so ist das. Binsenweisheiten zum Abnicken. Die einzige Haltung, die Schlömer seinem Material gegenüber einnimmt, ist die der Ironie. Doch aus der kritischen Distanz, die immer schon weiß, was richtig ist, ohne auch nur einmal darauf zu reflektieren, dass Schlömers schwitzende Fitnesstruppe eigentlich genau das tut, was sie zu kritisieren vorgibt, wird schnell eine Beruhigungspille. Teilnahmslos kann man sich in seinen Sessel zurücklehnen und feststellen, dass uns das alles in diesem Moment nichts angeht. Ja, ja so ist das. Bei aller Insistenz auf dem Körper und seinen Erfahrungen rücken uns Schlömers Schauspieler und Tänzer nicht auf den Leib. Seine merkwürdig aseptischen Bilder sind weder schön noch hässlich, weder verstörend aggressiv noch zweideutig spannend, weder erotisch faszinierend noch emotional anrührend. Sie demonstrieren eine Haltung, zu der man sich nicht erfahrend verhalten kann.

Lediglich zum Schluß gelingt Schlömer noch einmal ein intensives Bild. Nachdem sich die Horde brüllender Tänzer aufgelöst hat, die vom Mattenrand des Trampolins aus in einer Fight-Club-ähnlichen Szene die sich prügelnden Paare in ihrer Mitte angefeuert hatten, bleibt ein Tänzer zurück. Unermüdlich auf einem Bein hüpfend, erzeugt er das Geräusch eines Herzschlags, während die Lichtbatterie hinter ihm hochgefahren wird und die Zuschauer blendet. Sein Körper wird so zu einem substanzlosen Schemen in der Luft, unerreichbar entrückt und dabei doch spürbar präsenter als es die mehr fürs Theater als fürs Leben fit gemachten Körper vorher waren. Geblendet von so viel Erkenntnis verlassen wir das Theater, nicht ohne daran zu denken, wie alt das Tanztheater doch geworden ist.

Alt ist auch das Tanztheater von Pina Bausch geworden. Seit fast dreißig Jahren arbeitet sie in Wuppertal und rund um die Welt am Menschen, seinen Empfindungen, Wünschen und Widersprüchen, denen sie gegenüber einer als defizitär empfundenen gesellschaftlichen Ordnung zu ihrem Recht verhelfen will. Der Körper, den das Tanztheater untersucht hat, war stets ein gesellschaftlicher Körper, seine kleinste Einheit die Beziehung zwischen Mann und Frau. Durch das Private hindurch wurden allgemeine Verwerfungen sichtbar und erfahrbar, die Bauschs wunderbare Tänzer in einer traumwandlerischen Gratwanderung zwischen Spiel und Nicht-Spiel, zwischen bewußtem Vorführen und selbstvergessenem Erleben mit ihrem Körper beglaubigten. Daß das Material, das die Tänzer in Pina Bauschs Stücke einbrachten, oft aus ihrem persönlichen Erfahrungsschatz stammte, machte ihre Arbeiten in der Tat zu einem Stück gelebtem Leben.

Davon ist in ihrem jüngsten Stück nur noch wenig geblieben. Wie bei Joachim Schlömer in Köln, einst Bauschs Schüler an der Folkwang Hochschule, wird auch bei der Premiere im Wuppertaler Schauspielhaus viel herumtheatert und an der Oberfläche gekratzt. Wie Herr Rossi sucht auch Frau Bausch mittlerweile nur noch das Glück. Doch mußte man früher über Abgründe klettern, ehe man auch nur eine Ahnung davon bekam, was das ist, präsentiert sie es uns heute nahezu widerstandslos in unverholen affirmativen Wunschbildern, die jedem Werbespot für Frühstücksmargarine gut zu Gesicht stünden. Entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten trägt das neue Stück schon bei der Premiere einen Titel, der wie eine Widmung klingt: Für die Kinder von gestern, heute und morgen nimmt uns mit auf eine Reise ins Kinderwunderland und in eine Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat.

Peter Pabst hat dafür einen weißen leeren Raum aus beweglichen hohen Wänden gebaut, der aussieht wie eine Altbauwohnung, in der sich die zu Kindern regredierte feine Gesellschaft von gestern noch einmal austoben kann. Durch ein großes schwarzes Fenster in der Rückwand steigt zu Beginn ein Tänzer auf die Bühne, nur um sie durch eine Tür auf der rechten Seite gleich wieder zu verlassen. Zusammen mit einem Kollegen trägt er einen Tisch herein, auf dem sie anschließend nebeneinander Platz nehmen, bis der eine an der Kante kopfüber nach unten kippt und abzustürzen droht, hielte ihn der andere nicht fest. Immer wieder schlägt er wie ein Pendel nach unten aus bis die Szene eine brutale Schärfe und Gefährlichkeit entwickelt, die dem Rest des Abends weitgehend abgeht. Drei Männer drehen einen vierten in die Horizontale und stellen ihn auf den Kopf. Heben und Halten bestimmt zunächst die Beziehungen der Tänzer untereinander. Eine Tänzerin wird nach ihrem Solo an angewinkelten Armen und Beinen von einem Tänzer von der Bühne getragen. Ein anderer stellt seine Beine und Hände einer Kollegin als sichere Trittbretter zur Verfügung.

Wie in Watte gepackt scheinen die Szenen am Anfang regelrecht hingetupft, bevor das Tempo anzieht und zwei große Kinder auf einem Bürostuhl und einem kleinen Hocker über die Bühne rollen und tollen. Zwei Frauen malen mit Lippenstift Herzen an die Fensterscheiben, die eine ein rosafarbenes Symbol, die andere ein blutrotes anatomisch korrektes Bild. Mit Kreide malt eine abwechselnd Kreuze und Kreise auf den Boden, das eine steht für „Hug“ das andere für „Kiss“. Ein Seil wird geschwungen, und ein Tänzer springt in Liegestützhaltung darüber. Gleich darauf wird das Seil zum Katapult, das die Frauen auf die andere Bühnenseite in die Arme der Männer schleudert.

Gemeiner geht es bei dem Paar zu, dass sich mit den Absätzen ihrer Schuhe gegenseitig auf die Finger schlagen will, aggressiver bei den beiden Männern, die sich schlagend in die Arme fallen, um gleich darauf zu Boden zu gehen. Auch das Spiel mit den Elementen Feuer und Wasser darf diesmal nicht fehlen. Doch was in Stücken wie Masurca Fogo noch eine richtige Ausgelassenheit erzeugte, wirkt hier nur angedeutet und aufgesetzt. Übertüncht werden die ganzen Szenen von einer Reihe mehr oder weniger bekannter Musiknummern, die, im Gegensatz zu Bauschs Stücken aus den achtziger Jahren, jeglicher weiterführender inhaltlicher Funktion enthoben sind: ein Schlagerbrei, den man sofort wieder vergessen hat.

Die Spielszenen wechseln in schöner Regelmäßigkeit mit Solotänzen der ganzen Kompanie: virtuose, schöne Soli sind es, wie etwa das von Dominique Mercy, der sich, nach vorne aufs Publikum zulaufend, plötzlich krümmt und selbst umarmt. Ihr Bewegungszentrum haben sie in der Bauchregion, was zu kräftigen dynamischen Bewegungen mit Bodenhaftung und weit ausfahrenden Armen und Oberkörpern führt. Rhythmisch geschickt führt sie ihre sechs Tänzerinnen und acht Tänzer dazwischen zu Gruppentänzen zusammen. Die Frauen, die ihre Arme weit ausgebreitet haben, auf dem Rücken tragend, laufen die Männer im Kreis herum oder sie ruckeln auf dem Hintern nach vorne an die Rampe, während die Frauen über ihre ausgestreckte Beine rollen.

Individualität sucht man in Für die Kinder von gestern, heute und morgen vergebens. Die Frauen tragen allesamt schwingende Blümchenkleider, hochhackige Pumps und lassen keine Gelegenheit aus, ihre langen Haare effektbewusst fliegen zu lassen. Die Männer hat Marion Cito in Anzüge mit oder ohne Jackett und weiße Hemden gesteckt, als wolle sie längst zum Klischee erstarrte Geschlechterrollen noch einmal zementieren. Eine gewisse Ausnahme im allgemeinen Frausein und allgemeinen Mannsein, bei dem nichts heraus kommt außer Allgemeinplätzen, bilden Nazareth Panadero und Lutz Förster. So macht er ihr in einer Szene lauter Komplimente, doch sie legt ihm alles als verdeckten Vorwurf aus.

Doch selbst solche Szenen entbehren nach zwanzig Jahren Psychoclinch jeglicher Brisanz oder kritisch-analytischer Sichtweise. Sie sind zum Markenzeichen des Pina Bausch-Stils geworden und sind, wie vieles an diesem Abend, längst zum reinen Selbstzweck mit hohen Wiedererkennungswert beim Publikum verkommen.

Bevor sich die Tänzerinnen und Tänzer zum Schluß noch einmal in einem packenden wilden und langen Tanz verausgaben dürfen, erzählt Lutz Förster die Geschichte vom kleinen braunen Eichhörnchen, dass die Sonne aus einer Baumkrone befreit, in der sie sich verfangen hatte. Dabei hat es sich seinen buschigen Schwanz verkohlt und wäre beinahe blind geworden. Macht nichts, sagt die Sonne, und verwandelt das Eichhörnchen aus Dankbarkeit kurzerhand in eine Fledermaus. Alles wird gut, auch wenn es zunächst gar nicht danach aussieht. Früher hätte Pina Bausch den Zynismus dieses Märchens herausgestellt, das sie einer Sammlung von Indianergeschichten für Kinder entnommen hat. Heute überbringt sie uns die tröstliche und frohe Botschaft. Nach drei nicht unangenehmen Stunden verlassen wir das Theater, nicht ohne daran zu denken, daß das mit unserer Wirklichkeit eigentlich gar nichts mehr zu tun hat.