Hüpfen und Stoßen, Kleben und Fugen: Tanz auf den Trümmern der Moderne

Sarma 1 Apr 2002German

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Contextual note
This text was presented as a lecture in Tanzquartier Wien in April 2002, and first published on Sarma.

Gib’ der Kunst keine Chance

Neulich hatte ich das Vergnügen während einer Veranstaltung neben Thomas Plischke zu sitzen. Während wir dem Redner lauschten, Stift in der Hand und Papier auf dem Schoß, fiel mein Blick auf Toms Notizbuch, eine Art Kladde für Arbeitsnotizen, Skizzen und Gedanken. Auf dem Einband, dort, wo der Hersteller ein weißes Feld für den ordentlichen Eintrag des Namens des Besitzers freigelassen hat, stand in dicken Buchstaben zu lesen: „Give Art No Chance“, „Gib’ der Kunst keine Chance“. Unweigerlich schoß mir beim Lesen natürlich John Lennons berühmtes Lied „Give Peace A Chance“ durch den Kopf, was mir beim ersten Nachdenken völlig unsinnig erschien. Die Kunst und der Frieden, die eine oder keine Chance haben, was hätten sie schon außer zwei gleichen Worten miteinander zu tun? Und doch hat mich diese eher beiläufige Assoziation immer weiter beschäftigt. Ich möchte dem polemischen Slogan „Give Art no Chance“ also doch noch eine kleine Chance geben und die Substitution von „Art“ und „Peace“ in dieser kurzen Assoziationskette einmal ernst nehmen. Dann kann „Give art no chance“ auch so viel heißen, wie „Gib’ dem Frieden keine Chance“, was in unserem Kontext der Kunst und des Tanzes weniger mit Waffengewalt als mit einer gewissen Zufriedenstellung, einer Befriedigung und Befriedung des Zuschauers zu tun hat.

In der Tat wird der Zuschauer in Thomas Plischkes Stücken ebenso wenig in Ruhe gelassen wie sich die Choreographien zu Kunstobjekten abschließen. Alle seine Stücke, seine drei Soli, Fleur, L’Homme À SORTIR AVEC son corps und Demgegenüber Borniertheit, die zwischen 1998 und 1999 entstanden sind, die drei Ensemblestücke mit dem Kollektiv B.D.C., events for television (again), Affects und re(SORT), wie auch das neue Stück mit der Frankfurter Küche as you like it. Die Kunst der Selbstverteidigung I sind Auseinandersetzungen mit dem Zuschauer und dessen Blick auf die Bühne und auf die Tänzer. Der avantgardistische Vorstoß ins Feld der Zuschauer, der ihm Theater natürlich immer ein gegenseitiges dem theatralen Pakt inhärentes Einverständnis impliziert, macht das Publikum ebenso zum Gegner, der entgegen seiner Gewohnheit bearbeitet wird, wie zum Komplizen, der sich gerne bearbeiten läßt. Die Szene ist in Thomas Plischkes Stücken ein Ort der Auseinandersetzung, was sowohl räumlich wie auch inhaltlich zu verstehen ist. Etwas dissoziiert sich, gerät in Bewegung, verändert sich und droht sich im Verhältnis Bühne und Zuschauerraum auch immer wieder zu verlieren. Für seinen kritischen Blick auf den Tanz und den tanzenden Körper bedient er sich bestimmter Verfahren, die ich mit den Begriffen Unterbrechung, Wiederholung und Verdoppelung zusammenfassen möchte. Es sind Verfahren, die unser gewohntes Sehkontinuum unterbrechen, um einen Spalt zwischen das Gesehene und unsere mentale und psychische Verarbeitung desselben zu treiben.

Beide, die Störung des Zuschauerblicks und die mitunter frustrierende Unabgeschlossenheit der Werke, bedingen sich gegenseitig. Von Plischkes Stücken gibt es nie nur eine Version. Von Affects habe ich vier radikal verschiedene Fassungen gesehen. Auch Fleur ist in seiner Anemonen-Blüte mittlerweile die dritte Überarbeitung, von den wechselnden Besetzungen, die Stücke wie events oder re(SORT) radikal verändert haben, ganz zu schweigen. Wie ein bildender Künstler arbeitet Thomas Plischke in Serien. Doch was in der Welt der Bilder gang und gebe ist, ist im Berech der darstellenden Kunst eine Störung des Betriebs, ein unangenehmes „Nicht fertig werden“, das der Rezeption eines selbstidentischen Produkts im Wege steht.

Der Verdacht liegt nahe, daß hierbei die Kunst schon lange keine Chance mehr hat. Vielmehr geht es um eine Praxis, ein Machen, das sich als ein kontinuierlicher Arbeitsprozeß versteht, der den Diskurs über die Arbeit immer schon mit einbezieht, um sie und sich fortzuschreiben, d.h. sowohl weiterzuentwickeln als auch auszulöschen. Wie sieht die Bearbeitung des Zuschauers in Thomas Plischkes Stücken aus? Welche Formen kann sie annehmen? Anhand von vier Beispielen, die ich an vier grundlegende Tätigkeiten des Tänzers und des Choreographen Thomas Plischke geknüpft habe, - Hüpfen, Stoßen, Kleben und Fugen - möchte ich dem im weiteren Verlauf meines Vortrags etwas genauer nachgehen. Damit verbunden sind theoretische Reflexionen, die meinen Beobachtungen einen weiteren Horizont über das rein Faktische hinaus eröffnen sollen.

Hüpfen

In der vierten Version von Affects steht Thomas Plischke zu Beginn auf der Bühne und springt vor unseren Augen über zwanzig Minuten lang bis zur körperlichen Erschöpfung immer wieder auf und ab. Beim Zuschauen stellt sich nach einiger Zeit ein merkwürdiger Effekt ein, der, wenn man nicht wie der eine oder der Zuschauer erbost das Theater verläßt, unsere Wahrnehmungsmechanismen auf uns zurückspielt, um sie uns bewußt zu machen. Was hier verhandelt wird, ist ein Ein- und Ausblenden des Zuschauers, das auf den beiden Prinzipien Wiederholung und Unterbrechung basiert. Die endlose Wiederholung des Hüpfens verdrängt den Tänzer aus dem Gedächtnis und aus dem Blickfeld des Zuschauers. Der Körper verschwindet, obwohl er doch anwesend ist. Wir vergessen ihn, während er doch die ganze Zeit vor unseren Augen auf- und nieder springt. Erst wenn er aufhört, sein Hüpfen also unterbricht, erinnern wir uns wieder an ihn, wir sehen ihn wieder, obwohl er jetzt eigentlich nichts mehr tut, als tanzender hüfender Körper gar nicht mehr existiert.

Bevor es zu dieser vierten und letzten Version kam, die zurückkehrte zu einer frontalen Bühnensituation, spielten die drei Teile des Stücks in zwei oder sogar drei verschiedenen Räumen. In jedem der Räume stand ein Körper zur Disposition, darunter Martin Nachbars Rekonstruktion von drei Teilen aus Dore Hoyers Zyklus Afectos Humanos. Ebenso wie Nachbar in der Rekonstruktion der Tänze von einem Körper affiziert war, der nicht der seine war – der weibliche Körper einer Ausdruckstänzerin -, verstellte sich die körperliche Erfahrung in den beiden anderen Teilen im Medium der Sprache und des Bildes. Der eigentlich Körper lag dazwischen, nirgendwo verortet, immer nur als Effekt zwischen den drei anderen uneigentlichen Körpern aufblitzend, an sich aber nicht zugänglich. Auch hier war die Unterbrechung, der Stillstand der Ort des tanzenden Körpers.

Jedes Moment der Wiederholung ist von einem Moment des Vergessens gekennzeichnet, von einem kurzen „Stocken“, wie es der amerikanische Philosoph Samuel Weber in seiner Lektüre von Sören Kierkegaards Text Die Wiederholung nennt. Das „Stocken“ oder die Lücke, bevor Zeitpunkt A in Zeitpunkt B wiederholt wird, markiert ein Zögern des Subjekts, einen kurzen Stillstand, der das Zeitkontinuum und die Geschichte, die sich in ihm entfaltet, unterbricht. In dem Moment, in dem etwas von A in B wiederholt wird, droht es sich zu vergessen und auf dem Weg zu jenem anderen Ort etwas anderes zu werden.(1)

Phänomenologisch betrachtet bindet, wie Eckhard Lobsien in seinem Buch Wörtlichkeit und Widerholung ausgeführt hat, der Fluß der Zeit, der seit Edmund Husserls Phänomenologie des Inneren Zeitbewußtseins (1893-1917) das Wesen unseres Bewußtseins ausmacht, die Einmaligkeit eines Ereignisses an seine Wiederholung.(2) Die Rezeption eines Kunstwerks findet in der Zeit statt, die unaufhörlich voranschreitet bzw. dahinfließt. Kunst vermittelt ein gesteigertes Bewußtsein des Hier und Jetzt, des absoluten Präsens, weil sie ihr Material in einer einzigartigen Weise vor uns ausbreitet. Diese Gegenwartsmomente aber sinken ständig in die Vergangenheit ab. Sie werden Teil jener unmittelbaren Vergangenheit, die Husserl „Retention“ nennt, und die unauflöslich an der Gegenwart klebt. Wenn wir uns mit Kunst auseinandersetzen, muß das Bewußtsein jene Gegenwartsmomente ständig vergessen, um Platz zu schaffen für neue Eindrücke. Das wiederum erhöht das Reservoir an Elementen, die aus ihrer retentionalen Position wiedergeholt werden können, um wieder gegenwärtig zu werden. Je mehr Elemente abgedrängt werden, desto mehr Elemente können wiederholt werden. Das gleiche gilt aber auch umgekehrt. Je mehr Elemente wiederholt werden, um die spezifische Struktur eines Kunstwerks zu schaffen, desto „präsenter“, zeitloser, einmalig und unwiederholbar wird das Kunstwerk. Indem sie wiederholt werden, transzendieren die Elemente ihre Zeitlichkeit und werden zu frei disponierbaren überzeitlichen Einheiten. „Die Wiederholung bricht die Sequenzen aus Jetzt-Rentention-Reproduktion auf und konstituiert das Poetische als ein Jenseits aller linearer Formulierungen, als eine Sprachtranszendenz, als eine Sphäre der Nicht-Verstehbarkeit.“(3) Das Wörtliche ist daher immer schon infiziert mit der Möglichkeit der Wiederholung, die die Wörtlichkeit mit einer Differenz versieht. Umgekehrt stützt sich die Wiederholung auf die Wörtlichkeit und Einmaligkeit des Kunst-Ereignisses, um überhaupt Material zu haben, das wiederholt werden kann. Wenn nun die Frage nach der Unterbrechung und der Wiederholung mit unserer Vorstellung von Identität und Individualität verbunden ist, nämlich mit dem, das was im Wortsinn unteilbar und das gleiche ist, dann öffnet die Wiederholung die Möglichkeit eines Abdriftens des Subjekts, in dessen Prozeß es als ein anderes erscheinen kann. Das Subjekt des Tanzes vermag sich durch das Stocken und Vergessen in seiner Potentialität auszuagieren, weil es das identifizierende wiedererkennende Sehen des Zuschauers ausblendet. Stattdessen eröffnet es ein Feld der körperlichen sinnlichen Erfahrung, das sich in seiner durch die Wiederholung etablierten Wörtlichkeit und Einmaligkeit nur erkennen läßt.

Betrachtet man die Stücke von Tom Plischke, dann wird die „Unterbrechung“, die auf einem Vergessen basiert und Wiederholung auslöst, der Ort des tanzenden Subjekts. Mit seiner Minimalaktion des Hüpfens katapultiert es sich aus der Zeit, macht sich wörtlich und einmalig, obwohl das unermüdliche Wiederholen des Springens eine lange Zeitdauer in Anspruch nimmt. Auch sein Solo „Fleur“ basiert auf dem Prinzip der Unterbrechung, um dem Zuschauer seinen Blick auf den Tänzer zurückzuspielen. In Plischkes flüssige Tanzbewegungen schleichen sich immer wieder kleine Fehler ein, Unterbrechungen, die ihn von vorne beginnen lassen, bis die gesamte Choreographie nur noch aus wiederholten kleinen Phrasen zu bestehen scheint, aus Lücken und Löchern, die den Körper orientierungslos und ohne Gedächtnis im Raum zurücklassen.

Stoßen

In seinem zweitem Solo L’homme À SORTIR AVEC son corps entwirft Thomas Plischkes vier Bilder, die das Verfahren der Unterbrechung und Wiederholung mit dem Thema der Gewalt und der Freiheit verbinden. Der Titel bezieht sich auf einen Satz des französischen Theatervisionärs Antonin Artaud, der von einem Theater träumte, das den Menschen dazu einladen würde „à sortir avec son corps“. Mit seinem Körper spazierenzugehen impliziert zum einen die Vorstellung von Freiheit, zum anderen aber auch die ungleich unbequemere Vorstellung, daß, um mit seinem Körper auszugehen, man von seinem Körper getrennt sein muß. Man müßte seinem Körper als Objekt begegnen, ihn als separate Entität außerhalb seines Selbst wahrnehmen, was natürlich sofort die Frage aufwirft, wo dieses Selbst dann zu lokalisieren wäre.

Plischkes Bildkompositionen sind inspiriert von den Zeichnungen, die Artaud während seines Aufenthaltes in der psychiatrischen Klinik von Rodez zwischen 1943 und 1945 angefertigt hat. Dort wurde er mit 51 Elektroschocks behandelt, die ihn in der Tat seines Körpers und seiner Freiheit beraubt hatten. Selbst nachdem der ungeheure Schmerz der Schocks abgeklungen war, hinterließen sie Artaud mit dem Gefühl, seines Körpers entledigt worden zu sein. In einem Brief an Dr. Latremolière vom 6. Januar 1945 schreibt Artaud: “Herr Latremoliére, der Elektroschock bringt mich zur Verzweiflung, er nimmt mir das Gedächtnis, er betäubt mein Denken und mein Herz, er macht aus mir einen Abwesenden, der weiß, daß er abwesend ist und sich wochenlang auf der Suche nach seinem Wesen befindet, wie ein Toter neben einem Lebenden, der nicht mehr er selbst ist, der sein Kommen fordert und bei dem er nicht mehr eintreten kann“.(4)

Das Solo beginnt mit dem Bild eines Mannes, dessen Jacke viel zu groß ist für seinen Torso. Man muß dabei unweigerlich an eine Zwangsjacke denken, gerade auch deshalb, weil Plischkes Arme und Hände darin versteckt sind. Am Ende der Ärmel, die spannungslos umher fliegen, befinden sich zwei riesengroße Hände, die direkt aus Artauds Zeichnung Tod und Mensch aus dem Jahr 1946 entnommen sind. Während Plischke seinen Kopf wild hin und her schüttelt und mit großen Schritten über die Bühne wippt, springt plötzlich ein dritter Arm aus dem Jacket. Wie die nackten Füße des Tänzers ist er mit Goldfarbe bemalt, die ihm einen surrealen Charakter verleiht. Er wird zu etwas, das realer als real ist, zu einem Objekt der Begierde, das jene Freiheit repräsentiert, die dem Rest des Körpers verwehrt bleibt. Im zweiten Bild schreitet Plischke frontal auf das Publikum zu und entfernt sich wieder. Sein rechter Arm ist dabei über seinem Kopf gestreckt, während Stimmen und Musik zu hören sind – der Soundtrack zur deutschen Wiedervereinigungsfeier 1990. Das dritte Bild zeigt einen nackten Plischke, der seinen Körper mit einem Mikrophon erkundet, das dem Körper distinkte Geräusche entlockt. Zwanghaft reibt er das Mikrophon um seinen Bauchnabel, bis ein roter Ring entstanden ist. Im letzten Bild schließlich wirft sich Plischke mit ausgestrecktem Arm seitlich auf einen klapprigen Metalltisch, der mit lautem Getöße bei jedem Stoß beinahe zusammenzubrechen droht. Beethovens Dritte Sinfonie, die Eroica, erklingt dazu. Beethoven widmete sie einst Napoleon, den er als Befreier Europas würdigte, bis dieser sich zum Kaiser krönen ließ.

Das wiederholte Stoßen übernimmt in diesem Stück die Funktion des Hüpfens. Die gewalttätige Aktion gegen den eigenen Körper attackiert zusammen mit den brutalen Geräuschen und der Musik die Sinne der Zuschauer. In allen vier Bildern ist die Idee der Freiheit eine zweideutige Sache, die immer schon ihr Gegenteil beinhaltet. Die Vorstellung, aus einer Zwangsjacke auszubrechen, isoliert und zerstückelt die Gliedmaßen des Körpers. Die Jubelgeste eines Volkes, das sich von einer Diktatur befreit hat, erinnert an den Hitlergruß. Die lustvolle autoerotische Entdeckung des Körpers verletzt den Körper, bis er blutet. Die Wiederholung schwankt in diesem Beispiel zwischen Lust und Schmerz, Freiheit und Zwang. Das Stoßen stößt auch die Zuschauer an, weil es sie nicht in erster Linie intellektuell, sondern körperlich anspricht. Plischke etabliert mit dem Stoßen eine Kommunikation von Körper zu Körper, die die Bühne mit dem Zuschauerraum kurzschließt.

Wenn die Wiederholung die Bedingung der Möglichkeit des Zeichens ist, was uns jeder Semiotiker bestätigen wird, und jedes Zeichen daher immer schon bedeutet, kann die Wiederholung als künstlerisches Mittel aber auch eingesetzt werden, um Bedeutung zu zerstören. Sie beruft sich dabei auf die Dialektik von Wörtlichkeit und Wiederholung. Sie zerstört Bedeutung, indem sie wörtlich wird. In L’homme À SORTIR AVEC son corps arbeitet die Wiederholung in genau diese Richtung. Sie zerstört Bedeutung wie das Stottern die sinnvolle Vollendung eines Satzes unterbricht. Sie untergräbt die bedeutende Geste mit jedem Moment der Wiederholung, in dem sie auf der wiederholten Aktion als einmaliger Aktion beharrt, die nicht vergehen will. Hier kommt Eckhard Lobsiens chiastisches dialektisches Verhältnis von Wörtlichkeit und Wiederholung in einer radikaleren Zuspitzung ins Spiel. In seiner Husserl-Interpretation unterstreicht Derrida die Husserlsche Feststellung, das der gegenwärtige Moment eigentlich nie gegenwärtig sein kann. Denn wenn der Gegenwartspunkt sofort in die Position der Retention absinkt, dann wird die Gegenwart allein durch ihr Zurückkommen aus der Vergangenheit konstituiert. Derrida nennt diesen Umkehrpunkt „pli“, die Falte. „Das lebendige Präsens entspringt aus einer Nicht-Identität mit sich und aus der Möglichkeit der retentionalen Spur. Es ist allemal eine Spur. Diese Spur ist von einem Präsens her undenkbar, dessen Leben sich selbst innerlich wäre. Das „Sich“ des lebendigen Präsens ist ursprüngliche eine Spur. (…) Denn die Ursprünglichkeit muß von der Spur her und nicht umgekehrt gedacht werden.“(5) Was ursprünglich ist, ist daher niemals eine Aktion, ein Gegenstand, ein Element, das wiederholt wird. Was ursprünglich ist, ist der Akt der Wiederholung als solcher. Das Subjekt, das wie wir gesehen haben, die Wiederholung ja zu zersetzen droht, existiert daher nur durch das unaufhörliche Spiel der Differenz, die seine Identität aufschiebt.

Indem Thomas Plischke gewalttätige Gesten wiederholt, entleert er sie und macht sie zu einem unlesbaren Zeichen im Sinne einer außerzeitlichen „Nicht-Verstehbarkeit”. Die Wiederholung unterbricht die Aktion, die auf diese Weise zu keiner Geschichte wird. Ewig gegenwärtig, doch stets leer, lenkt die Geste die Aufmerksamkeit auf die Materialität des Körpers und deren Potential. Die Bilder, die Plischke kreiert, sind grausam, weil sie gewalttätig sind. Sie sind gewalttätig, weil sie den Körper von jeder Bedeutung befreien udn dem Subjekt seine Geschichte verweigern. In Gilles Deleuzes begrifflichem Raster erleben wir hier keinen einfachen Akt der Wiederholung, sondern eine „ontologische Wiederholung“ oder eine „Widerholung dritten Grades“, die nur sich selbst hervorbringt. „La frontière n’est plus entre une première fois et la répétition qu’elle rend hypothétiquement possible, mais entre les répétitions conditionnelles et la troisième répétition, répétition dans l’éternel retour qui rend impossible le retour de deux autres.”(6) Diese Nietzeanische Wiederholung der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist die Wiederholung, die allen Wiederholungen ein Ende bereitet. In „Jenseits des Lustprinzips“ hat sie Freud als Todestrieb bezeichnet. Plischke wiederholt mit dem Stoßen nicht nur eine grausame Geste. Die pure Wiederholbarkeit macht das Stoßen grausam und tödlich. Von dieser Perspektive aus betrachtet, verbindet sie sich erneut mit Artauds Erfahrungen in Rodez und mit seiner Ästhetik der Intensitäten, von der Plischkes Arbeit ausgegangen war. Stets mit dem Schatten des Todes belegt, stirbt die Bedeutung ständig ab. Ihre Flüchtigkeit intensiviert die Erfahrung des Moments, eine Erfahrung des Erhabenen, die nicht auf den Begriff zu bringen ist. Die Vorstellung des Erhabenen taucht auch in Plischkes Arbeit mit BDC, re(SORT) wieder auf. Dort wird das Zitat des amerikanischen Malers Barnett Newman, „The Sublime is Now“, ganz weit oben und unerreichbar an den Rand einer weißen Wand projiziert, wo es auf die einmalige, wörtliche, nicht-wiederholbare Konstellation der wiederholten Zitate und Materialien im Hier und Jetzt der Aufführungssituation verweist. Freiheit wird in Plischkes Solo zur leeren Geste, zur Theaterhieroglyphe, die jedoch eine Menge zukünftiges Potential enthält. Die Geste des Stoßens ist ein „Mittel ohne Zweck“, als das Giorgio Agamben die Geste definiert hat, ein Mittel ohne Stoßrichtung, das nur seine Mitteilbarkeit mitteilt, um in der bedeutungslosen Lücke zwischen A und B ein Potential an Möglichkeiten der Begegnung und der Auseinandersetzung zu bieten.

Fugen

Mit dem Hüpfen und dem Stoßen hat Tom Plischke den Blick des Zuschauers auf die Bühne irritiert und zersetzt. Die Unterbrechung des Blicks nimmt in seinen Arbeiten aber noch eine andere Form an, die den Ort des Zuschauers selbst betrifft. In allen drei Stücken mit dem Kollektiv B.D.C. verzichtet Plischke auf die Proszeniumsbühne und den in ihr eingeschrieben Blick zugunsten eines offenen Arrangements zwischen Performern und Zuschauern. Dem Gedanken, der dahinter steckt, möchte ich jetzt weiter nachgehen.

Seit der Tanz sich im Laufe des 17. Jahrhunderts von den großen Bankett- und Ballsälen der Schlösser und Fürstenhöfe auf die Bühne bewegt hat, hat er sich der Ordnung der Zentralperspektive unterworfen. Aus der Malerei kommend, ordneten die Bühnenbildner ihre gemalten Kulissen in einer Weise an, daß sie sich in die Tiefe des Raumes verjüngend auf einen zentralen Punkt hin ausrichteten. So bewegten sich die Tänzer des klassisch-romantischen Balletts in einem abgestuften Raum, der auch ihre Körper entlang der Fluchtlinie nach Größe und Wichtigkeit hierarchisch anordnete. Mit den Avantgarden der ersten Jahrhunderthälfte und den Neo-Avantgarden der sechziger Jahre ist diese Ordnung des Sehens, die sich nur zu gerne als natürlich ausgibt und dabei doch ein kulturell erlerntes Konstrukt ist, unter Beschuß geraten. Der Choreograph Merce Cunningham etwa arbeitet seit über vierzig Jahren an der Auflösung dieses Feldes, in dem er die Tänzerinnen und Tänzer seiner Kompanie zu gleichberechtigten „Punkten im Raum“ macht, die es den Zuschauern erlauben, zwischen mehreren Foki gleichzeitig zu wählen.

Ich möchte für mein drittes Beispiel auf den Fluchtpunkt der Zentralperspektive eingehen, in dem sich das Auge des Betrachters idealtypisch selbst sieht. Denn die Selbstbespiegelung des neuzeitlichen Subjekts impliziert weitaus mehr als nur die reine vernünftige Erkenntnis. Die Selbsterkenntnis durch Selbstbeobachtung basiert auf einem Blick, der sich im Unendlichen nicht nur widerspiegelt, sondern auch verliert und verkennt. Denn das, was das Auge dort sieht, ist ebenso nah wie fern, vertraut wie unbekannt. Das, was das Auge zu sehen bekommt, was sich vor dem distanzierten Betrachter ausbreitet, nimmt es in Besitz. Daß der distanzierte Betrachter aufgrund seiner Gottähnlichkeit männlich konnotiert ist, das Sehfeld, das penetriert wird, dagegen weiblich, sei hier nur am Rande erwähnt. Er nimmt jedoch nicht nur in Besitz, sondern verliert sich gerade im Fluchtpunkt, der letztlich unbesetzbar bleibt, der sich immer wieder entzieht, weil er sich in die Zukunft öffnet und daher mit immer neuem Aufwand besetzt werden muß. Der Fluchtpunkt wird zum Ort der phantasmatischen, vielversprechenden und vieles versprechenden Selbst-Aneignung, die letztlich aber beständig mißlingt.

Martin Jay hat darauf hingewiesen, daß in diese Ökonomie des Sehens die aufkommende kapitalistische Ordnung eingeschrieben ist.(7) Der Fluchtpunkt wird als Ort eines unstillbaren Begehrens konzeptionalisiert, das es dem männlichen Subjekt erlaubt, sich ganze Kontinente anzueignen, immer mehr und immer andere Güter zu besitzen und anzuhäufen. Für Rebecca Schneider bleibt diese Logik des Kapitals auch im Spätkapitalismus die gleiche:

”In the late capitalist renditions of perspective, then, insatiability still reigns: the image/commodity does not ‘give’ what it promises, the viewer does not ‘get’ what he desires – he is destined to spend himself unseen, un(re)marked by the object of his gaze, to try and try again, ritually stabbing at his own eyes like Oedipus. Ultimately he imagines he can give up on vision altogether in orgasmic thrall with his narrative of loss. The image, the object, is what must be ‘gotten’ or abandoned. The given to be seen, like the commodity itself, is never considered to ‘get’, but only to ‘give’ or to deny.”(8)

Auf die Bühnensituation und den Tanz übertragen bedeutet das zunächst, daß der tanzende Körper sich dem Blick des Betrachters als Ware darbietet, was in der Pariser Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus wörtlich verstanden wurde. Er wird ausgestellt, beäugt und begutachtet und darf doch nur geben, ohne selbst nehmen zu können. So kann er oder sie den Blick des Betrachters zwar zurückgeben, doch nur als Anerkennung, daß er oder sie bereits gesehen ist.

Den Tänzer auf der Bühne nicht zum Objekt des Blicks werden zu lassen, ist eine mögliche Perspektive, unter der man die Stücke von betrachten kann. Die Produktionen schließen sich gegenüber dem Publikum nicht ab, im Gegenteil, sie inszenieren das Publikum regelrecht mit. Verspricht der Fluchtpunkt die Identität des Betrachters, steht mit seiner Auflösung im gemeinsamen Theaterraum eben diese Identität in Frage. Ist die Zentralperspektive, wie Nelson Goodman gezeigt hat, ein kulturelles Konstrukt, das symbolisch Ordnungen festlegt, dann impliziert eine Auseinandersetzung mit ihr auch eine Veränderung in die symbolische Ordnung unserer Gesellschaft. re(SORT) beginnt im Foyer, von wo aus das Publikum in den Theaterraum geführt wird. Er gleicht mit seinen weißen Wänden dem weißen Kubus eines Ausstellungsraums.

Plischke untersucht darin die Verbindung der Tanz- und Theatermittel untereinander. Dabei arbeitet er mit dramatischen Texten, Filmen und Tanzstücken, die wie Zitate funktionieren und ihren eigenen Kontext, ihre eigene Zeit mittransportieren. Sein Verfahren basiert, und das ist für unseren Zusammenhang von besonderer Signifikanz, auf dem Blick. Plischke und seine Kompanie beobachten Menschen auf der Straße, kopieren ihre Bewegungen and stellen sie anschließend in einen theatralen Rahmen. So sehen wir zu Beginn einen Film, der nur einen Mann zeigt, wie er eine Straße entlang geht. Er bemerkt zunächst nicht, dass er beobachtet wird, reagiert jedoch mit einer ablehnenden Handbewegung, nachdem er die Kamera, die ihn von einem fahrenden Boot aus im Auge behält, endlich erblickt. Der Betrachter ist hier immer schon Teil des Bildes, das Plischke inszeniert. Die Tänzer-Darsteller sind daher nicht mehr nur angeschaute. Auf einer Ebene mit den Betrachtern vermögen sie den Blick aktiv zurückzugeben, vom Publikum gar Teilnahme und Teilhabe verlangen.

Die Tänzer bewegen sich zunächst zwischen dem Publikum hindurch, nähern sich einzelnen Zuschauern und flüstern ihnen Anweisungen ins Ohr. Sie sollen sich die choreographische Methode des Beobachtens zu eigen machen, andere Zuschauer ins Visier nehmen, um ihre Bewegungen zu studieren und sie anschließend beschreiben und imitieren. Die gerichtete Kommunikation zwischen Akteuren und Zuschauern dreht sich in solchen Momenten um. Die Zuschauer werden zu Choreographen und Tänzern, die sich des gleichen Ansatzes wie die Künstler bedienen. Sie tragen zur Choreographie, die sich im spontan im jeweiligen Moment der Aufführung entfaltet und in keiner Aufführung identisch sein kann, als aktive bei. In dem Maße, wie sie das aber tun, „verpassen“ sie das Stück.

Irgendwann an diesem Abend muss das Publikum sogar einen Walzer tanzen. Hand in Hand mit einem Partner oder einer Partnerin, den oder die man vielleicht noch nie vorher gesehen hat, umrundet das Publikum im Walzerschritt den Raum, während sich im Inneren des Kreises die Tänzer mit Hebungen und Drehungen in Gegenrichtung bewegen. Dadurch rückt der Raum hinter dem Rücken des Betrachters ins Blickfeld. Anders als in einer frontalen Sitzausrichtung wird er explizit angespielt und einbezogen. Er sorgt für eine gewisse Schutzlosigkeit des Zuschauers, der sich nicht mehr länger auf eine stabile Perspektive verlassen kann, die ihn als sehendes Subjekt positioniert. Es muss sich vielmehr ständig neu ausrichten, orientieren und zum anderen verhalten. Integriert in die Aktivität des Tanzes, bewegt er sich auf gleicher Ebene mit den anderen Tänzerinnen und Tänzern. In diesem Moment des Walzertanzens gibt es für ihn keine Vorstellung mehr: Der Zuschauer verpasst die Show, weil er die Show ist. Der slowenische Theaterwissenschaftler Emil Hvratin hat diesen Sachverhalt in einem anderen Kontext so formuliert. „If we insist on the participatory spectator, we have to renounce the performance. Thus the participation becomes terminal, meaning that if we persist on the terminal spectator, we have to renounce the performance” (Janus, 9/01, p. 66). Die Performance aufgeben heißt, der Kunst keine Chance geben. Das heißt aber auch, den Zuschauer als solchen zu töten, seinem ewigen Frieden als Zuschauer, nicht als Teilnehmer, eine Chance zu geben.

Nicht alle Zuschauer jedoch wollen oder können an dem Rundtanz teilnehmen. Einige bleiben außen vor und beobachten wiederum die Tänzer. Durch die Zweiteilung der Gruppe und das sich gegenseitige Beobachten wird der Blick auf die Bühne, der die Theatersituation bestimmt, zum Thema erhoben. Das mimetische Verfahren des Beobachtens und Kopierens wird dabei seiner „naturgetreuen“ Darstellungskonvention beraubt, denn die imitierten Bewegungen fügen sich in einem weitgehend enthierarchisierten Bühnenraum zu keinem perspektivisch ausgerichteten Bild des Originals. Die Frage, die Plischke stellt, ist, wie der Zuschauer „markiert“ werden kann im Sinne einer Begegnung, in der beide Seiten in ihren unterschiedlichen Rollen als Tänzer und Zuschauer als Partner involviert sind. Es ist ein Versuch, den Betrachter ortlos zu machen, ihn aus seinem bequemen Sessel zu kippen, um ihm paradoxerweise gerade dadurch (s)einen Körper in der Aufführung zurückzugeben. Plischke gibt nicht mehr länger nur in erster Linie etwas zu sehen, sondern verortet den Betrachter in der Aufführung, die einen Erfahrungsraum markiert, in dem die Tänzer nicht nur geben, sondern auch nehmen können.

Kleben

In einer Szene aus events for television (again) wird es klebrig. Zu Strawinskijs Le Sacre du Printemps setzen sich Alice Chauchat und Martin Nachbar an einen Tisch und beginnen mit Messer und Gabel von einem leeren Teller rhythmisch zu Strawinskijs Musik zu essen. In bestimmten Abständen heben sie je ein Glas Tomatensaft zu ihrem Mund und lassen die rote Flüssigkeit über die weißen T-Shirts laufen als liefe Blut aus ihren Mundwinkeln. Die Bewegungen basieren auf den kopierten Bewegungen, die Plischke beim Essen macht. Es sind von Körper zu Körper weitergegebene Bewegungen, dem eigentlichen Körper der beiden Tänzer fremd. Das sieht aus wie ein Schlachtopfer, um das es Strawinskijs Musik inhaltlich ja auch zu tun ist. Darüber hinaus ist das rhythmisch überhöhte Essen ein Verweis auf ein kleines Ritual des Alltags, mit denen das Stück voll ist. Ein Ritual, zwischen strenger Abfolge sowie deren ekstatischer Außerkraftsetzung oszillierend, impliziert daher stets auch Disziplin, um die es dem Stück zu tun ist. Zu einem Fernsehfilm über die Vermessung von Körpern, um festzustellen, ob sie zum Ballettänzer geeignet sind, legt Martin Nachbar einen lockeren aus der Hüfte heraus ungeregelten Tanz aufs Parkett. Merce Cunninghams Stimme wird eingespielt, die verkündet, das „dancing movement in space and time“ ist, während Hendrik Laevens mit einer Lichterkette drapiert eine Figur aus einem Cunningham Stück zitiert. Strawinskijs Sacre und Cunninghams events sind Schlüsselmomente der Tanzmoderne, deren Implikationen wie etwa die Disziplinierung von Körpern, hier auf dem Prüfstand stehen. Plischke arbeitet an ihnen als historischem Material, ebenso wie Peter Handkes Text Publikumsbeschimpfung, Jean Luc Godards Film Le Mépris und Trisha Browns choreographische Technik der Accumulations zitiertes, wiedergeholtes Material in re(SORT) und Martin Nachbars Dore Hoyer Rekonstruktion Material für Affects war. Für Tom Plischkes Stücke, auch wenn sie in Zukunft in der Frankfurter Küche produziert werden, gibt es kein Rezept. Sie zeichnen sich eher durch eine Arbeitsweise aus, durch ein Durcharbeiten des gefundenen Materials, um es einer Prüfung zu unterziehen. Montiert und zusammengeklebt, ohne die Nahtstellen zu vertuschen, entstehen so Tanzstücke als Meta-Tanzstücke, die nach der Relevanz bestimmter Konzepte für die heutige ästhetische Praxis fragen. Stücke, die an historischem Material kleben bleiben, es wiederholen, um es wörtlich zu machen. Jenseits jeglicher normierender Tanztechniken bewegen sich Plischkes Körper im Offenen. Die Unterbrechung des Zuschauerblicks, die die theatrale Rahmung des Tanzgeschehens ins Blickfeld rückt, ist daher stets auch eine Unterbrechung des Blicks des Tänzers auf sich als Tänzer. Plischke fragt nachdem, was ein tanzender Körper sei, was ihn ausmacht und historisch ausgemacht hat. Dazu unterbricht er sowohl den Fluß des Tanzes als auch den Fluß der Tanzgeschichte. Seine Wiederholungen stellen damit nicht nur die Identität des tanzenden Körpers in Frage, sondern auch die des Tanzes als Kunst der Bewegung. Thomas Plischke etabliert Tanz als kritische Praxis von Tanz, die auf den Trümmern der Moderne aufbaut, die „in jedem ihrer Momente zitierbar geworden“ ist, wie es Walter Benjamin in seiner dritten These aus Über den Begriff der Geschichte formuliert.

Mit einer Beobachtung von Walter Benjamin möchte ich daher jetzt auch schließen. „Auf den Begriff der Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten“. Wie dieser sprengt Plischke Momente aus der Vergangenheit und dem linearen Fluß der Zeit heraus, um sie in seinen Stücken zu kristallisieren. Daß dazu ein Moment der Unterbrechung und des Stillstandes, der dem Tanz als Kunst der Bewegung natürlich ganz besonders schwer fällt, notwenig ist, daran läßt Benjamin keinen Zweifel. „Zum Denken“, schreibt er, „gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert.“ Wir können das Denken hier getrost mit dem Tanzen gleichsetzen. Denn was ist Plischkes Kunst, die keine Kunst sein will, anders als ein Eingedenken des Tanzes an sein Gewordensein und seine Möglichkeiten in einer von Spannung gesättigten Konstellation zwischen Bühne und Zuschauerraum, mit welchen Chocks auch immer sie für Darsteller und Publikum verbunden ist?

Noten

(1) Samuel Weber, „Vor Ort: Theater im Zeitalter der Medien“, in: Gabriele Brandstetter/Helga Finter/Markus Wessendorf (eds.), Grenzgänge: Das Theater und die anderen Künste, Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1998, 31-51, (here: 37).
(2) Eckhard Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, München: Wilhelm Fink Verlag, 1995, 7-32.
(3) Lobsien, op. cit., 193.
(4) Quoted in: Paule Thévenin, „Ein Rebell der Kunst“, in: Gerhard Fischer et al. (eds.), daedalus-Die Erfindung der Gegenwart, Basel, Frankfurt a.M: Stroemfeld/Roter Stern, 1990, 325-247 (here: 237).
(5) Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979 (1967),142/143.
(6) Gilles Deleuze, Différence et répétion, Paris : PUF, 1968, 379; see also: Lobsien, op.cit. 226/227.
(7) Jay (1993) 57.
(8) Schneider (1997) 70.