Drei Blicke auf den Körper

Thomas Plischke/B.D.C zeihen "Affects" im Frankfurter Mousonturm

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 19 Feb 2000German

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Contextual note
This review was wirtten after the premiere. The performance changed substantially afterwards. I have seen four completely different versions of it.

Glaubte die Tanzszene in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch, Bewegungen mit jeder Choreografie aus dem Nichts schöpfen zu können, macht sich seit einigen Jahren ein anderer Trend bemerkbar. Geschichtliche Themen rücken plötzlich ins Zentrum des Interesses junger Choreografen, Rekonstruktionen von alten Choreografien werden zum viel diskutierten Thema. Damit einher geht für die Tänzer die Reflexion auf das, was es bedeutet, einen Körper zu haben, der durch eine historische Tanztechnik bereits geprägt und geformt ist. Thomas Plischke, Martin Nachbar und Joachim Gerstmeier belassen es bei ihrer im Kollektiv erarbeiteten neuen Produktion im Mousonturm, "Affects", nicht bei der einfachen Rekonstruktion. Sie stellen ihren Umgang mit der Tradition ins Zentrum des Abends. Zu diesem Zweck wird das Publikum in drei Gruppen unterteilt, die nacheinander drei verschiedene Räume aufsuchen, in denen drei Blicke auf den Körper geworfen werden.

In der Studiobühne zeigt Martin Nachbar drei Tänze aus Dore Hoyers 1962 uraufgeführtem Zyklus "Affectos Humanos", Begierde, Hass und Angst, menschliche Grundbefindlichkeiten, die die Hoyer durch nahezu mathematische Zergliederung ihres androgynen schlanken Körper gänzlich unpathetisch in den Raum stellte. Nachbar hat die Tänze zusammen mit Waltraud Luley einstudiert, die die Ausdruckstänzerin noch persönlich kannte. Er führt die Bewegungen über den Atem und fügt ihnen dadurch etwas Organisches hinzu, das die mechanische Präzision der Hoyer in dieser Weise nicht besaß. Ohne die perkussive Musik des Originals tanzend, wird sein eigener Atem zur Musik. Zwischen Hass und Angst steht Nachbar minutenlang still, um seinem w„hrend der ersten beiden Tänze aufgezeichneten und eingespielten Atmemhythmus zu lauschen - eine wunderbare Beschwörung eines Körpers, der längst nicht mehr sichtbar ist.

Im Foyer des Mousonturms wird der Film einer Geburt gezeigt. Ein neuer K”rper kommt zur Welt, w„hrend auf einer zweiten Leinwand dahinter sich ein Mann rasiert, bis der Film im Zeitraffer seinen Kopf auflöst. Im zweiten Stock sitzt der Schauspieler Bruce Campbell an einem Tisch und liest mit monotoner Stimme einen Text des französischen Philosophen Gilles Deleuze, auch er, wie Dore Hoyer, durch Selbstmord aus dem Leben geschieden, ber Begehren und Lust. Um die Verblasenheit des Textes ironisch zu konterkarrieren, schält Campbell währenddessen ganz profan Kartoffeln. Nur die Zuschauer müssen sich an diesem Abend bewegen. Sie laufen zwischen den drei Räumen hin und her, die umeinander kreisen, ohne dass ihre Mitte, der Körper, jemals als solcher anwesend wäre. Denn der Körper, er existiert nicht. Nur über den Umweg durch Text, Bild oder codierte Bewegung wird er sichtbar.

Eine gewisse Leere macht sich daher schließlich auch im Zuschauer breit. "Affects" führt lediglich einen abstrakten Diskurs über den Körper, anstatt sein Potential für szenische Umsetzungen wirklich zu nutzen. Der Effekt ist der eines philosophischen Oberseminars. Da wird aus "Affects" ganz leicht "affektiert" in der Wortbedeutung, die uns das Programmbüchlein aus dem 17. Jahrhundert übermittelt: 'sich etwas anmaßen'. Denn das spezifische Eigengewicht des künstlerischen Gegegenstands bleibt an diesem Abend äußerst gering. Ästhetische Erfahrungen lassen sich bei "Affects" keine machen. Dabei sollte es beim Thema der Affekte und Gefühle, die unsere Körper mit ihren unbegründbaren und faszinierenden Wendungen durchlaufen, gliedern und mitunter auch gefährden, doch gerade gehen. Einzig Martin Nachbar setzt mit seinen Dore Hoyer-Tänzen den Kürper aufs Spiel. Das wäre ein Weg, auch im Theaterraum mit seiner perfiden Dialiektik aus An- und Abwesenheit über die Repräsentation, Evokation und Geschichtlichkeit von körperlichen Affekten nachzusinnen. Der Rest ist für einen zweistündigen Abend zu wenig.