Knick in der Optik

Amanda Millers Choreographie "Die Kunst der Fuge" im Depot

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 13 Apr 2002German

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Die Optik im Bockenheimer Depot ist aus den Fugen geraten. Ein weißer Tanzboden liegt in der Diagonalen, die von rechts hinten nach links vorne führt. An seinem Kopfende steht eine kleine Zuschauertribüne, deren Blickrichtung der Diagonalen folgt, während die eigentlichen Zuschauerränge frontal zur Rampe stehen. Durch diese Verschiebung der Blickrichtung öffnet sich die Bühne auf beiden Seiten um einen Spalt, eine Öffnung, die charakteristisch ist für den ganzen Abend. Die linke Bühnenseite wird von ein paar einfachen Holzbänken gesäumt, rechts vorne in der Ecke haben die Musiker Platz genommen. Die sieben Tänzer von Amanda Millers Freiburger Ballett Pretty Ugly und die fünf Musiker des Freiburger Barockorchesters unter der Leitung von Gottfried von der Goltz befinden sich in einem spannungsreichen Gegenüber, das auch das Stück „Die Kunst der Fuge“ zu Johann Sebastian Bachs gleichnamiger Komposition auszeichnet. Wer gerade nicht tanzt oder spielt, schaut den anderen zu, bevor er oder sie sich wieder locker in das Geschehen einfügt.

Denn Amanda Miller, die sich mit ihrer Kompanie 1997 dem Freiburger Theater anschloß, hat Bachs Musik nicht Note für Note vertanzt. Sie hat für ihre Choreographie nach den Löchern in der Komposition gesucht, nach formalen Umschlagpunkten, an denen sie der musikalischen Struktur tänzerisch eine eigene Stimme hinzufügen kann. Miller choreographiert unabhängig von der Musik eigene Fugen, läßt die eine Körperhälfte einer Tänzerin eine Stimme, die andere Körperhälfte die zweite Stimme tanzen, oder fügt ihre Tänzer in Duos und Trios mehrstimmig zu größeren Einheiten zusammen, die sie geschickt wechselnd über die Weite des Raumes verteilt. Ihre Bewegungssprache bleibt am neo-klassischen Achsenkreuz orientiert, wobei sie jedoch wie William Forsythe dessen Koordinaten verschiebt, Bewegungsfolgen auseinander bricht, um sie neu zusammenzufügen. Im ruhigen Duktus, in Tempo und Stimmung der Musik anverwandelt, besteht die Choreographie doch als eigenständige. Mal erklingt die Musik ohne Bewegung, mal wird ohne Musik getanzt, bis sich zwischen Tanz und Musik ein leichter Schwebezustand einstellt, der für die eigene Wahrnehmung der Zuschauer zwischen Auge und Ohr genügend Raum läßt.

Bach hat für seine letzte Komposition, die er vor seinem Tod 1750 unvollendet zurückließ, keinerlei Angaben zur Instrumentierung gemacht. Das Freiburger Barockorchester hat sich für ein Streichquartett und ein Cembalo entschieden. Das Spiel mit Originalinstrumenten, das das Ensemble zum Credo erhoben hat, sorgt für weiche und gedämpft lyrische Klangfarben, deren Facettenreichtum aber in der riesigen Halle unterzugehen droht. So erzielt die Musik weder Dynamik noch Schärfe. Das gleiche gilt für den Tanz. Erinnert das szenische Arrangement auch an Anne Teresa de Keersmaekers Choreographien zu Musik von Bach oder Mozart, kommt Amanda Miller an deren sicheres Gespür für Rhythmus und Dynamik nicht heran. Amanda Miller schießt sich auf ein graues Mittelfeld ein, wo alles, inklusive Seth Tillets Lichtgestaltung, unscharf wirkt. Das ist über weite Strecken angenehm entspannend, wird aber je länger der Abend dauert trotz der strengen Form, in die sich Musik und Tanz hineinbegeben, immer konturloser. Der berühmte Funke jedenfalls will nicht so recht überspringen.