Choreographie des Zuschauens

Alice Chauchat und Marten Spangberg im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 29 Apr 2002German

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Eine Frau und ein Mann sitzen auf zwei Stühlen und warten. Sie fallen von einer Pose in die nächste, schlagen die Beine übereinander, wenden sich scheinbar genervt voneinander ab oder stützen ihren Oberkörper mit einer Hand ab. Erst später erfährt man, daß das, was uns Alice Chauchat und Carlos Pez vorführen, Zitate aus dem Film „Top Hat“ mit Ginger Rodgers und Fred Astaire sind. Chauchats Stück „Choreographies“ spielt mit dem Wechsel zwischen Film- und Bühnenwirklichkeit, bei deren Übergang die typisch weiblichen und typisch männlichen Gesten durcheinander geraten. Auf der Studiobühne des Mousonturms, wo das Stück zu sehen war, werden Ausschnitte aus dem Film kurz eingespielt. Die Tänzer steigen in die Bewegungen ein, setzen sie fort, auch wenn das Bild längst verloschen ist und nur noch der Ton zu hören ist. Doch mehr noch als die Unterschiede in den medial vermittelten geschlechtsspezifischen Bewegungen kommt deren Austauschbarkeit zum Vorschein, bis zu dem Punkt, an dem man gar nicht mehr unterscheiden kann, was einmal einem männlichen oder einem weiblichen Körper zugeordnet worden ist. Dadurch geht dem Stück sehr rasch die Puste aus. Es wird zur leeren Demonstration von Gesten, die längst ihre Kraft zur (gesellschaftlichen) Bedeutungsproduktion verloren haben. Chauchat und Pez haben sehr genau gearbeitet, so daß man seine Wahrnehmung ständig überprüfen muß, um Beziehungen und Unterschiede feststellen zu können. Doch fehlt dem Stück jegliche Leichtigkeit und jeder Witz, Qualitäten, die den Film und vor allem die Tänze von Rodgers und Astaire so bestechend machen.

Auch für Marten Spångberg steht die zitierte Geste im Mittelpunkt seiner Aufführung. In „i.e. All All Over Over Over All All et al.“ reduziert der schwedische Performer, Dramaturg und Kurator die Erfahrungen, die die Zuschauer im Theater machen können, auf das von der Raumarchitektur vorgegebene perspektivische Sehen. Im Theatersaal des Mousonturm wird das Zuschauen selbst zur Aufführung. Spångberg nimmt mit dem Rücken zum Publikum auf einem Stuhl auf der Bühne Platz, während vor ihm auf einer Leinwand Ausschnitte aus bekannten Choreographien von Sasha Waltz über William Forsythe bis hin zu Jérôme Bel zu sehen sind. Die Ausschnitte zeigen, wo möglich, Szenen, in denen Tänzer ihren Blick über die Rampe ans Publikum zurückgeben. Die Sichtlinie setzt sich auch umgekehrt vom Zuschauerraum über die Bühne bis ins Videobild hinein fort, denn die Aufnahmen zeigen Spångberg beim Zuschauen. Sein Hinterkopf ist immer schon Teil des Bildes, der unsere eigene Sicht auf die Dinge versperrt, bricht und umlenkt. Ist die eigentliche Aufführung also verstellt, tritt die Choreographie des Zuschauens als eigentliche ins Blickfeld. Spangberg imitiert seine eigenen Positionswechsel, die er beim gefilmten Zuschauen vornahm, live auf seinem Stuhl.

Nach der Pause werden die Zuschauer auf die Bühne geführt und selbst zu Darstellern. Doch wieder ist der Zuschauerraum die eigentliche Aufführung. Denn der Architekt Tor Lindstrand hat einen computeranimierten Theatersaal entworfen, dessen Teile auf der Leinwand vor uns zum Soundtrack aus dem Film „Gladiator“ auseinanderfliegen, sich drehen und ständig neu zusammensetzen. In einer Mischung aus Walter Gropius’ Totaltheater und Stanley Kubricks Film „2001: Odyssee im Weltraum“ tanzt das Theater für die Darsteller, die sich kaum bewegen. „i.e. All All Over Over Over All All et al.“ ist konzeptionell auf der Höhe der Zeit und stringent wie selten ein Stück. Doch das allein macht auch nicht glücklich. Allzu sehr muß man die Sichtweise Spångbergs übernehmen. Andere oder gar eigene Erfahrungen kann und darf man in dessen Konzepttheater nicht machen. So bleibt am Ende nur der große Wunsch, die wunderbaren Stücke, die er zielsicher ausgewählt hat, (noch) einmal live auf der Bühne zu sehen. Versucht der aktuelle theoretische Diskurs über das Theater Theater als absolut gegenwärtiges Ereignis zu fundieren, ist Spångbergs Performance vielleicht der unfreiwillige Beleg dafür, daß Tanz und Theater gerade aus ihrer Abwesenheit heraus wirken und leben, nicht aus ihrer erfüllten Gegenwart oder ereignishaften Präsenz.