Lasset knacken das Korsett

"Von der Stange" ist im Ballett kein Einwand: Martin Schläpfers Mainzer "Kunst der Fuge"

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 18 Nov 2002German

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Kaum ein anderes Werk Johann Sebastian Bachs gibt der Nachwelt so viele Rätsel auf wie „Die Kunst der Fuge“. 1750 im Todesjahr Bachs entstanden ist das Werk unvollendet geblieben. Das dem verklärten Heldentum zugeneigte 19. Jahrhundert erfand den Mythos, Bach, damals schon beinahe erblindet, sei über dem Werk gestorben. Ein Kampf um Leben und Tod also sei sie gewesen, „Die Kunst der Fuge“, dem Tode durch harte ehrliche Arbeit abgerungen. Diese Version ist von der Forschung mittlerweile wiederlegt. Hat Bach das Liebhaberstück bewußt unvollendet gelassen, um noch im Abbrechen auf die Unendlichkeit und die Nichtigkeit alles Irdischen zu verweisen?

Das Werk, das selbst aus welchen Gründen auch immer offen geblieben ist, hat die Offenheit in seine Struktur integriert. Sie besteht in der Spannung aus formalem Exerzitium und labyrinthartig unvorhersehbaren Wendungen, die der reinen Vernunft zuwiderlaufen, und die ein anderes Bild vom Menschen impliziert. Vor zwei Jahren hat die Choreographin Amanda Miller zusammen mit dem Freiburger Barockorchester Bachs Musik zum Anlaß für eine Choreographie genommen. Dabei hat sie versucht, den Tanz als eigene Stimme in die kontrapunktische Struktur der Musik zu integrieren. So entstand ein Nebeneinander der beiden Kunstformen in einem geteilten Raum, die doch formal aufeinander bezogen blieben.

Der Mainzer Ballettchef Martin Schläpfer hat sich nun für eine andere Herangehensweise entschieden. Er stellt Bachs 14 Kontrapunkten, die er in 21 nach Gruppen unterschiedlich instrumentierte Szenen aufteilt, Bilder entgegen, die sich auf der barocken Perlenschnur aufreihen wie kleine Fundstücke. An einer formalen Umsetzung der musikalischen Struktur ist ihm dabei wenig gelegen, und so gibt es höchsten Anklänge an die Form, wenn ein Mann und eine Frau einander nachlaufen und voreinander fliehen wie die zwei Stimmen der Musik. In der Spiegelfuge im zweiten Teil entstehen symmetrisch gegenläufige Arrangements, die den Tänzern genügend Raum lassen, ihr technisches Können in brillanten Sprüngen und Drehungen unter Beweis zu stellen. Wie stark seine Tänzer mittlerweile sind, zeigen auch die zahlreichen schwierigen Hebungen, in denen sich Tänzerinnen zunächst eng um den Körper ihres Partners schmiegen, um mit grotesk abgewinkelten Beinen in der Luft zum Stehen kommen, bevor sie mit dem Kopf nach unten auf den Boden gesetzt werden. Immer bricht Schläpfer das neo-klassische Korsett, in dem er arbeitet, auf.

Wie in vielen Choreographien Schläpfers ist es auch diesmal der emotionale Gehalt der Musik, ihr unbestimmt suchender Charakter, dem er mit seinem Ensemble Ausdruck verliehen will. Daß der bei Bach weniger auf der Hand liegt als in den aufgewühlten musikalischen Steinbrüchen Alfred Schnittkes, Schläpfers bis dato bevorzugten Komponisten, erzeugt eine interessante Reibung, die den Abend jedoch vor manch aufgesetztem Pathos nicht verschont. Denn Schläpfer sucht den gehaltenen Moment, in dem jede ertanzte Leichtigkeit zur Pose gerinnt. Doch auch dieses strukturierende Moment bleibt nicht ohne Kontrapunkt. Wenn etwa drei Männer in der Hocke, eine Hand zum Hahnenkamm auf dem Kopf, die andere am Hintern, federnd auf die Bühne hüpfen oder eine Formation mit hochgezogenen Schultern und wackeligen Knien exaltiert schreitend die Bühne überquert, dann persifliert er den gespreizten Ton, mit dem er arbeitet.

Die vier Farbstreifen von blau zu rot und gelb und zurück zu blau, die das Halbrund von Thomas Zieglers Bühne im Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters umlaufen, erinnern, wenn das Licht von hinten durch sie hindurchgeschickt wird, an Kirchenfenster und unterstreichen den spirituellen Charakter der Gefühle, auf die Schläpfer abzielt. Daß er es dabei auch ziemlich weltlich zugehen kann, steht dem nicht entgegen. So läßt er seine Tänzer und Tänzerinnen wie Models auf dem Laufsteg die Mittelachse nach vorne zur Rampe schlendern, während ein Lichtkreis in der Bühnenmitte ein Tänzer selbstvergessen über seinen nackten Oberkörper streicht. Plötzlich springt ihn eine schwarzgekleidete Gestalt von hinten an, legt die Beine um seinen Körper, streicht ihm über den Kopf und verführt ihn. Catherine Voeffray hat für derartige fleischgewordene Phantasien Männer wie Frauen in durchbrochene schwarze und weiße Spitzenteile gesteckt, die zum Teil mit silbernen Applikationen verziert sind.

Schläpfer läßt jedes Bild für sich stehen, was sicher Bachs offener Form geschuldet ist. Schläpfers „Kunst der Fuge“ fehlt der aus dem Inneren der Bilder heraus entwickelte Bogen. Einzig dem wuchtigen und kantigen Eröffnungsduett zwischen Nick Hobbs und Yuko Kato gönnt er am Schluß eine Reprise. So ist es gerade die Gegenläufigkeit der Stimmungen, die ständigen sich gegenseitig implizierenden Wechsel vom hohen zum niederen Ton, in denen der Abend seine Einheit findet.