Gespenstertheater für Hoffnungsvolle

Jan Lauwers und die Needcompany aus Brüssel zeigen "Morning Song" im Schauspiel Frankfurt

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 20 Jan 2003German

item doc

Seit sie Tom Stromberg 1989 zum ersten Mal ins TAT eingeladen hatte, sind Jan Lauwers und seine Needcompany aus Brüssel regelmäßige Gäste in Frankfurt. Vor drei Jahren inszenierte Lauwers mit dem Ballett Frankfurt „DeaDDogsDon’tDance“, und William Forsythe war es auch, der Lauwers nun für ein Gastspiel seines schon 1998 entstandenen Stücks „Morning Song“ ins Frankfurter Schauspielhaus holte. Dort beginnt der Abend betont informell. Eine Gruppe Menschen betritt die Bühne und setzt sich auf ein paar Stühle vorne an der Rampe. Sie plaudern über Tischmanieren und Eßgewohnheiten, als befänden sie sich irgendwo, nur nicht im Theater. Plötzlich ergreift sie ein Rhythmus. Sie fangen an zu singen, während das Licht im Zuschauerraum langsam erlischt und jeder allmählich in die ihm zugedachte Rolle schlüpfen muß.

Mit meisterhaftem Geschick zieht uns Jan Lauwers hinüber in die Welt der Familie Grandiflora, deren Chronik er vor uns ausbreitet. Durch Gitarrenmusik, die zum Ende hin immer stärker elektronisch verstärkt wird, schafft er eine melancholische Atmosphäre, die eine suggestive Sogwirkung entfaltet, so daß wir beinahe unmerklich hinübergleiten in unsere eigene Vergangenheit. Denn Harry (Gonzalo Cunill), der Held des Abends, der jeden Teller einfach leer essen muß, ist eigentlich schon tot, gestorben im Schicksalsjahr 1973, dem Jahr der Ölkrise und dem Ende des Vietnamkriegs, aber auch dem Jahr von David Bowies erster großer Tournee.

„Morning Song“ vereint alle typischen Elemente von Jan Lauwers Theater und rundet sie zur Perfektion. Das Spiel mit den Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen Privatem und Öffentlichem, Sagbarem und Unsagbarem, mit fremden Akzenten und der permanenten Übersetzung von Sätzen, die so von Mund zu Mund wandern, als hätten wir sie beim ersten Mal nicht richtig verstanden, bildet das Rückgrat der Inszenierung. Auch für „Morning Song“, dessen Titel mit dem Gleichklang von „mourning“, „Trauer“, und „morning“, dem hoffnungsvollen neuen Morgen, spielt, schafft Lauwers drei räumliche Zentren, die zum Teil gleichzeitig bespielt werden und zwischen denen der Zuschauer seine Aufmerksamkeit hin und her lenken muß.

Zwischen der Stuhlreihe an der Rampe, der Küche rechts und dem gelben Sofa hinten ereignen sich kleine Tanzszenen, die etwas von dem geheimen Innenleben der Figuren preisgeben. Die mysteriöse Ushi, Harrys Freundin und Rechtsanwältin aus New York (Carlotta Sagna), spreizt sich ganz zart zur Arabeske, beide Arme vor dem Körper und die Handflächen wie zur Abwehr nach außen gekehrt. Lena (Tijen Lawton), Harrys Frau, zittert ständig und wird zwischen ihrem Ex-Liebhaber Tchi (Misha Downey) und Eddy (Julian Faure), hin und hergereicht. Auf harten Spitzenschuhen hämmert sie einen Flamencorhythmus in den Boden, der ihre Anspannung ebenso deutlich macht wie ihre Verzweiflung.

Harry, der Berufsrevolutionär im spiegelbesetzten Anzug, hat sie alle miterlebt, die Revolutionen in Chile und Nicaragua, er war vielleicht auch in Nevada, als die Vereinigten Staaten ihre Atomtests durchführten, und schließlich in Prag, wo ihn der Fallout erwischte. Lilane verlor ihren Mann Leopold (José Verhaire) auf der Bärenjagd in Sibirien, wo Assoziationen zu den Gulags nicht fern sind, und Ushi weitet ihren Blick gar auf die Katakomben unter der Via Appia im alten Rom, wo ihr Vater umkam. Die Geschichte der Menschheit und ihr Streben nach Freiheit ist eine unendliche Geschichte der Grausamkeiten. Lauwers Menschen tragen ihre vermeintliche Last, Allegorien für das 20. Jahrhundert zu sein, mit viel Leichtigkeit und Humor.

Doch Jan Lauwers Gespenstertheater steht auf der Seite der Hoffnungsvollen. Was er in „Morning Song“ vorschlägt, ist ein Leben mit den Toten, deren Heimat das Theater ist, wo sie mit den Lebenden auf der Bühne und im Parkett in einen Dialog treten und von ihrer Geschichte erzählen. Als Zeichen für diese Gemeinschaft steht das Essen, dessen Duft aus den Kochtöpfen auf der Bühne im Laufe des Abends in den Zuschauerraum hinüberweht. Am Ende sitzt Harry am großen Tisch und ißt, wie er es am Anfang beschrieben hat, seinen Teller leer. Liliane Grandiflora, die er eben noch wild geküßt hat, als stünde er in der Blüte seines Lebens, bringt ihm ein Schälchen Obstsalat. Auch Liliane, der Viviane de Muynck eine reife Sinnlichkeit und unbestechliche Souveränität verleiht, ist schon 103 Jahre alt und einst über ihren Büchern gestorben. Dann senkt sich das Licht über der Familie. Kleine bunte Lämpchen werden hereingetragen, jedes ein Buchstabe, die zunächst das Wort „Finito“ bilden, bevor sie zu „Infinito“ erweitert werden. Denn Jan Lauwers’ Theater ist eines des unendlichen Glücks.