Eine offene, soziale Choreographie

William Forsythe zeigt im Bockenheimer Depot ein neues abendfüllendes Stück aus Klang und Bewegung

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 23 Apr 2003German

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Contextual note
This was a text to announce the premiere of Forsythe's new piece before its premiere.

„Du lebst ein falsches Leben. Ja. Aber für Dich.“ Hinter einem Bildschirm, der in der Tiefe des Bockenheimer Depots verschwindet, erscheint der Kopf eines Tänzers, der die Sätze aus dem Englischen übersetzt. Eine Frauenstimme, deren dazugehöriger Körper nirgendwo im Bühnenraum auszumachen ist, hat sie ihm vorgesprochen. Das Bild seines Unterkörpers wird von einer Live-Kamera geliefert wird, die weiter vorne im Bühnenraum die Beine einer anderen Tänzerin einfängt. Stimmen erfüllen den Raum, die ebenso hybrid sind wie der Körper des Übersetzers. William Forsythe unterbricht von seinem Platz auf der Zuschauertribüne die Szene. Ihr Rhythmus läuft aus dem Ruder, er muß sich an der Musik orientieren. Forsythe probt an seinem neuen Stück „Decreation“.

Ausgangspunkt für das neue abendfüllende Stück des Frankfurter Ballettchefs war eine Oper mit dem Titel „Decreation“ aus der Feder von Anne Carson. Die kanadische Schriftstellerin, deren Text „My Life as Catherine Deneuve“ Forsythe schon in seinem Stück „Kammer/Kammer“ verwendet hat, liebt es in ihren Texten, verschiedene Realitäten ineinander zuschachteln, die sich gegenseitig brechen. Eingesponnen in ein Netz aus verschiednen Fiktion erscheinen die menschlichen Erfahrungen, die Carson beschreibt, als individuelle Ausprägungen allgemeiner oder geborgter kultureller Muster. Für „Decreation“ hat sie gleich drei Szenarios übereinandergeblendet, die sich alle mit Dreiecksverhältnissen beschäftigen. Der mythologischen Geschichte von Mars, Venus und ihrem betrogenen Ehemann Hephaistos stellt sie den Text von Marguerite Porette, einer Mystikerin aus dem 13. Jahrhundert gegenüber, die über den Umweg des Ideals der höfischen Liebe ihre Liebe zu Gott erkundet. Den dritten Strang bildet Carsons Meditation über Simone Weils Verhältnis zu Gott. In ihrem Buch versuche Weil ihre Person soweit zurückzunehmen, „to decreate herself“, wie die Dramaturgin Rebecca Groves im Gespräch erzählt, um ihre Seele die Union mit Gott zu ermöglichen.

Aus dieser dreifachen Dreiecksgeschichte erscheint die Vorstellung von „Decreation“ als einem Prozeß der Selbsthinterfragung, als ein Abbau des Selbst und dessen Gewohnheiten, um Platz für Neues zu schaffen. Von der ursprünglichen Idee der Oper, ist lediglich die Ebene des Klangs zurückgeblieben, die das Stück allerdings sehr stark prägt. Handelte „Kammer/Kammer“ von der Verführung der Bilder, ist „Decreation“ in einem viel stärkern Maß der Akustik verpflichtet. Forsythe selbst bezeichnet „Decreation“ als „künstliche Oper“. „In einer gewissen Weise sind die Stimmen von Opernsängern ja auch künstliche Stimmen. Die natürliche Stimme wird deformiert, um als Singstimme neu aufgebaut zu werden. Ich habe das Thema der Deformation beibehalten. Normalerweise gegen wir davon aus, daß das Gesicht Bewegungen des Körpers nicht registriert. Doch wir spielen damit. Wenn der Körper etwa nach unten geht, folgen ihm die Mundwinkel und die Gesichtsmuskeln.“ Die Stimmen der Tänzer erklingen so zum einen durch den eigenen grotesken, extrem verdrehten Körper verzerrt. Ihr Klang entsteht so unmittelbar aus der Bewegung heraus. Zum anderen werden sie durch elektronische Filter deformiert und verfremdet. Da der Essay, den Carson ihrer Oper als Erläuterung beigefügt hat, wenig dramaturgischen Zündstoff bot, habe man sich entschlossen, dafür Texte aus ihrem Buch „The Beauty of the Husband“, die Schönheit des Ehemanns, zu verwenden.

Doch „Decreation“ ist, wie Rebecca Groves betont, über all diese Sachen und dann doch wieder nicht. Die konkreten Erfahrungen mit dem umgestalteten Bockenheimer Depot sind für die Entstehung des Stücks ebenso wichtig gewesen wie Anne Carsons Texte. Der Impuls, kein Stück zu präsentieren, sondern eine offene Situation zu schaffen, eine „soziale Choreographie“ herzustellen statt eine Show zu zeigen, sei für die Probenarbeit sehr lange bestimmend gewesen. Lange Zeit habe sich Forsythe während der Proben völlig zurückgenommen. Entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten habe er diesmal kein Bewegungsthema vorgegeben, das die Tänzer dann durch Improvisation variieren sollten. Statt dessen konnten sie mit ihren eigenen Materialien arbeiten. Forsythe habe ihnen eher Aufgaben gestellt, die sie so weit wie möglich von dem wegführten, was sie als Tänzer des Ballett Frankfurt gewohnt waren zu tun.

„Decreation“ ist so auch das Destillat eines Prozesses, in dem alteingesessene Arbeitsmethoden sukzessive abgestreift wurden, um Platz für Neues zu schaffen. Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Auflösung des Balletts im kommenden Jahr kann man das auch als Weg in die Zukunft verstehen, als Sprung nach vorne in die Nach-Ballett-Frankfurt-Zeit. Natürlich wird am Ende doch ein Tanzstück entstanden sein. Aber es wird vielleicht eines sein, das thematisch offener und in der szenischen Darstellung ungeschützter ist als man es von Forsythes Stücken gewohnt ist.