Mit 108 Jahren als Conferencier in einer Show

Unsterbliches Original: Richard Move ist heute Martha Graham im Bockenheimer Depot

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 13 Mar 2003German

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Martha ist im Ballettsaal. Im Trainingsanzug liegt sie auf dem Boden, die blondgefärbten Haare im Gesicht, um sich für die bevorstehende Probe aufzuwärmen. Über die Schulter wirft sie mir ein freundliches „Hi“ zu, bevor sie sich aufrichtet, um mir die Hand zu schütteln. Martha ist groß. Fast zwei Meter. Martha ist eigentlich ein Mann und heißt eigentlich Richard Move. Doch alle nennen den New Yorker Tänzer und Choreographen mittlerweile nur noch mit den Namen jener Frau, deren Maske er sich auf der Bühne anlegt. Martha Graham, die amerikanische Tanzlegende, die das klassische Ballett ablehnte, um ihm eine eigene moderne Technik und Ästhetik entgegenzusetzen, ist sein alter ego. „Martha Graham war eine sehr extreme Persönlichkeit. In der Art, wie sie geredet hat, wie sie sich kleidetet und wie sie sich bewegt hat. Sie glaubte daran, daß Kunst und der Tanz eine Art Religion sind und daß ihr dabei die Rolle der Hohe Priesterin zukommt. Sie bietet sich einfach an, um aus ihr eine überlebensgroße Bühnenfigur zu machen.“ Wenn Richard Move von Martha spricht, klingt es, als rede jemand sehr liebevoll von seiner alternden schrulligen Mutter oder seinem liebgewonnen Haustier.

Mag das Original 1991 im hohen Alter von 96 Jahren auch gestorben sein, bei Richard Move lebt Martha weiter. „Die Grundannahme für die Show ist, daß Martha nie gestorben ist. Sie arbeitet jetzt als Conferencier in dieser Vaudevilleshow, wo sie selbst als junges Mädchen in den zwanziger Jahren ihre Karriere begann. Dort erzählt sie aus ihrem Leben, tanzt die Höhepunkte aus ihren großen Stücken und präsentiert Gäste.“ Und die können sich sehen lassen. Seit Move 1996 mit seiner Revue regelmäßig in dem kleinen Club „Mother“ in Downtown New York auftrat, haben ihm unter anderem Mikhail Baryshnikov und Merce Cunningham die Ehre erwiesen. „Der Club ist mittlerweile geschlossen, so daß ich kein eigenes Theater mehr habe. In New York machen wir jetzt nur noch ein oder zwei Vorstellungen im Jahr. Das letzte Mal traten wir in der Town Hall vor 1.500 Zuschauern auf.“

Auch in Frankfurt gibt es natürlich Gäste. Begleitet wird Move von Jennifer Binford, die mit ihm die dramatischen Szenen aus Grahams mythologischen Stücken wie „Klytämnestra“ tanzt. „Das sind monumentale Hollywoodschinken“, freut sich Martha. Francesca Harper, vor wenigen Jahren noch Tänzerin beim Ballett Frankfurt, zeigt zwei Ausschnitte aus ihrem Stück „The Fragile Stone Theory“. Suse Wächter hat drei Puppen gebastelt, die Menschen aus Marthas Vergangenheit repräsentieren, denen sie auf der Bühne wiederbegegnet, und Peggy Grelat hat Anna Pawlowas „Der sterbende Schwan“ einstudiert. „Als der Vorschlag kam, den „Sterbenden Schwan“ zu präsentieren, wußte ich sofort, was Martha über das Stück gesagt hat.“ Seine Faszination für die Grande Dame des Modern Dance hat Richard Move mittlerweile zu einem richtigen Experten gemacht, dem auch ehemalige Tänzer aus Grahams Kompanie ihre Aufwartung machen. „Nachdem fest steht, wer als Gast auftritt, schreibe ich meine Texte, damit jeder eingebunden wird.“ Seine Conferencen basieren auf der Autobiographie und den anderen Schriften von Martha Graham. Denn an einer Parodie ist ihm nichts gelegen. Statt dessen versucht er, in die Ästhetik und die Ideenwelt Grahams vorzudringen, um sie als lebendige Geschichte vorzustellen. „Marthas Karriere hat fast das ganze 20. Jahrhundert umspannt. Sie ist so vielen wichtigen Menschen begegnet und hat so viele Menschen inspiriert“, erzählt Move, während wir vor einem Fernsehgerät sitzen, auf dem er mir Ausschnitte aus einer früheren Show vorspielt. Dort tanzt gerade Michael Schuhmacher, ehemals Tänzer beim Ballett Frankfurt, im roten Ferrari-Rennanzug zu einem Technolied, das jenem anderen Michael Schuhmacher die Ehre erweist.

„Das erste Mal, daß ich von Martha Graham gehört habe, war ich noch in der Schule. Für unsere Theaterklasse sollten wir einen Bewegungskurs belegen. In der Kleinstadt im ländlichen Virginia, wo ich aufgewachsen bin, gab es nur ein Tanzstudio, das unter anderem auch eine „modern“ Klasse anbot. Da ich ein moderner Mensch bin, beschloß ich, diesen Kurs zu besuchen. Dort erwartete mich eine großartige Lehrerin mit überaus theatralischem Auftreten. Die schwierigen Übungen konnte ich damals natürlich noch nicht machen, aber jede Übung war begleitet von einem geradezu mystischen Bild, das unsere Vorstellungskraft wecken sollte und das mich ungeheuer faszinierte.“ Der endgültige Entscheidung, statt Theater doch lieber Tanz zu studieren, traf Move, als er die Stücke von Robert Wilson und Pina Bausch gesehen hatte, Stücke, die mit Bewegung ihre Geschichte erzählen. Richard Move betrachtet „Martha“ als Charakterstudie von Martha Graham. Wenn er nicht gerade Martha ist, choreographiert er für andere Tanzkompanien, wie für Mikhail Baryshnikovs White Oak Dance Project. Was wohl Martha dazu sagt? „Ich tauche zwar sehr tief in Martha ein“, gesteht er, „aber, you know, am Ende des Tages ist sie doch nur eine Rolle.“