Mit dem Rücken sehen

Ein Gespräch mit Jeroen Peeters über‘s Tanzsehen und sein Buch Through the Back

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Seit der Jahrtausendwende schreibt der Belgier Jeroen Peeters als Kritiker und Essayist über Tanz. Er hat auf Künstler wie Boris Charmatz aufmerksam gemacht, mit Meg Stuart das Arbeitsbuch Are we here yet? herausgegeben, als Performer und Dramaturg mit Choreografen wie Martin Nachbar oder deufert&plischke gearbeitet. Jeroen Peeters ist eine Institution. Im Café Dujardin nahe der Uferstudios aber sitzt, bei strahlendem Sonnenschein am Tag der Deutschen Einheit, ein sympathischer Enddreißiger, der ein wenig aufgeregt ist, weil er sein erstes Interview auf Deutsch geben wird. Die Aufregung ist unbegründet: Jeroen Peeters formuliert gestochen scharf, mit der begrifflichen Präzision, die seiner philosophisch-kunsthistorischen Ausbildung entspricht. Soeben ist sein neues Buch erschienen, Through the Back. Situating Vision between Moving Bodies, ein Sammelband thematisch lose verbundener Essays, die sich um das Thema Tanzsehen drehen. Anfang November stellt Jeroen Peeters das Buch im Rahmen von Open Spaces #2 der Tanzfabrik Berlin vor.

 

Jeroen Peeters, wie sehen wir Kunst?

So etwas wie ‚bloß sehen‘ gibt es nicht. Unser Sehen ist immer eingebettet: im Körper, in einem kulturellen Gewebe, es ist von Technologien beeinflusst und hat sich im Lauf der Geschichte auch ständig geändert. All das schwingt mit, wenn man Kunst sieht. Kunst steuert unsere Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft, und ich glaube, dass Tanz insbesondere in der Lage ist, die körperlichen und technologischen Vorbedingungen für das Sehen spürbar zu machen. Zeitgenössischer Tanz erkundet auf einer Erfahrungsebene, was die Visual Studies seit dreißig Jahren wissenschaftlich erforschen: dass Sehen nicht einfach passiert oder kontextlos ist, sondern dass wir einen Körper haben, der es uns ermöglicht, uns sprachlich, imaginär oder empathisch zu verhalten. Diese Auseinandersetzung von zeitgenössischem, experimentellem Tanz mit den Vorbedingungen des Sehens möchte ich mit meinem Buch vermitteln.

 

Was hat es mit dem Titel auf sich, Through the Back. Situating Vision between Moving Bodies?

Eine Tanzaufführung ist eine soziale Situation, in der die Zuschauer aktiviert werden. Der Untertitel spielt auf die Beziehung zwischen den Körpern von Tänzern und Zuschauern an, der physischen Körper wie auch der imaginären – also der vorgestellten Körperbilder sowie neuer sinnlichen Dispositionen.

 

Und was meinen Sie mit Through the Back? Wörtlich übersetzt heißt das "durch den Rücken", im Englischen erinnert der Titel an den Ausdruck "durch die Hintertür".

Damit beziehe ich mich auf die Möglichkeit, beim Tanzsehen mit dem blinden Fleck in unserem Rücken umzugehen, das heißt, auch das aktiv in die Wahrnehmung einzubeziehen, was wir nicht sehen, sondern nur spüren, hören oder uns einbilden können. Als Menschen sind wir für uns selbst zum Teil undurchsichtig. Dafür ist unser Rücken, der wir ja nicht sehen können, ein schönes Symbol. Wir brauchen den sozialen Kontext, wie ihn auch eine Tanzaufführung herstellt, um uns zu unserer Selbstblindheit und Dezentrierung zu verhalten. Auch die Wirbelsäule ist unsichtbar: Sie ist die interne Technologie, die es uns ermöglicht, uns zu bewegen und uns körperlich zu artikulieren – und letztendlich auch imaginär oder sprachlich zu agieren. Tanz, der das verstehbar macht, ist eine Art von Weltbezug, der kritisch sein kann.

 

Inwiefern kann Tanz kritisch wirken?

Körper werden in unserer Kultur ständig auf flache Bilder reduziert, sei es in der Werbung oder im Fernsehen. Kritischer zeitgenössischer Tanz kämpft dagegen an, entwirft alternative, mehrdimensionale Körperbilder. Unsere Vorstellungen vom Körper entsprechen unserem Menschenbild. Tanz hat also immer auch eine anthropologische und politische Bedeutung.

 

Ihr Buch richtet sich an ein Fachpublikum. Was können Sie den Zuschauern mitgeben, die nur gelegentlich Tanz sehen?

Das Zuschauen ist meine Leidenschaft und auch meine Praxis als Dramaturg und Kritiker. Ein gebildeter Zuschauer bin ich aber erst geworden durch viele Seherfahrungen, und das war ein langer Prozess. Ich hoffe, ich kann andere inspirieren, das Tanzsehen ernst zu nehmen, als Möglichkeit, sich auf komplexe, vielfältige Art und Weise zur Welt zu verhalten. Der Zustand der Verwirrung, der sich bei den ersten Stücken einstellen mag – und der sich auch bei geübten Tanzzuschauern mitunter einstellt – ist in Ordnung. Tanz ist kein dramaturgisches Rätsel, das man lösen muss. Man muss eine Performance nicht ‚verstehen‘, sondern kann seiner eigenen Erfahrung vertrauen, auch wenn man noch keine Wörter dafür hat; nicht alles lässt sich in Sprache im engeren Sinn übersetzen. Dann kann Tanz die Grunderfahrung vermitteln, dass eine andere Welt möglich ist. Die Frage ist nur: bin ich offen dafür?

 

Jeroen Peeters, Through the Back: Situating Vision between Moving Bodies, Helsinki: Theatre Academy of the University of the Arts, 2014