Wie möchten Sie heute arbeiten?

Anmerkungen zu einem alternativen choreographischen Modus für die Redeproduktion (1)

Wissen in Bewegung 2007German
In Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (eds.), Wissen in Bewegung. Perspektiven der künsterischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld: transcript Verlag, 2007, pp. 113-121

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Wie möchten Sie heute arbeiten? So einfach diese Frage klingen mag – richtet man sie an Choreographen, Tänzer und andere im Bereich Tanz und Performance tätige Menschen, wird man darauf Hunderte von Antworten erhalten. Wird die Frage zudem im Rahmen eines Tanzkongresses gestellt, der unter dem anspruchsvollen Motto ‚Wissen in Bewegung’ stattfand, so wirft sie durch ihren performativen Charakter viele mehrdeutige und widersprüchliche Diskursströme und Weltanschauungen auf, welche der gegenwärtigen Debatte über künstlerische Forschung weiteren Zündstoff verleihen. Läuft man mit dem von Natur aus kritischen Unterfangen, den Tanz zum Wissensgebiet zu deklarieren, nicht auch Gefahr, die Terminologie der Wissensgesellschaft zu übernehmen?(2)  Wenn Künstler gleichzeitig Forscher, Entwickler, ja gar Manager des kreativen Wissens sein sollen, wird ihre Erfahrung dann nicht allzu schnell in Schubladen gesteckt und instrumentalisiert? Angesichts der angestrebten Standardisierung der Hochschulausbildung in Europa sowie der Einführung eines Doktors in der Kunst wurde im Zuge des Bologna-Prozesses die Frage aufgeworfen, ob künstlerische und wissenschaftliche Forschung einen vergleichbaren Status innehätten. Wenn künstlerische Forschung und künstlerisches Schaffen in fremden Bezugsrahmen nicht nur diskutiert werden, sondern sie darüber hinaus auch den dort herrschenden Diskursen und Normen zu entsprechen haben, sind wir dann nicht weit entfernt von heimischem Terrain? Wenn anerkannt wird, dass künstlerische Forschung eng mit den Erfahrungen der Menschen verwoben ist und das hervorgebrachte Wissen sich als ganz spezifisch, praktisch und oft implizit erweist, wozu dient dann der neohumanistische Diskurs über Wissen?

 

Welche Art von Kunst schwebt dir vor? Was bedeutet dies im Rahmen eines Kongresses, der die Komponente des Wissens so stark hervorhebt? Wie können Wissen, Theorie und Politik in choreographische Arbeitsweisen übersetzt werden? Worin bestehen heute die Möglichkeiten des künstlerischen Schaffens? Welche performativen Implikationen hat die Benennung? Inwiefern beziehen sich Kategorisierungen auf verschiedene Bewegungen der Kunstgeschichte? Welche Struktur oder Form ist dazu geeignet, bestimmte Fragen auf dem Wege des Choreographischen ansprechen zu können? Wie können Überschneidungen bei den aufgeworfenen Fragen zur Klärung der in verschiedenen Bereichen betriebenen Politik beitragen oder gar etwas Neues hervorbringen?

 

Im Rahmen des ‚Tanzkongress Deutschland’ im April 2006 fand unter der Leitung der Tanztheoretiker und Dramaturgen André Lepecki und Myriam Van Imschoot ein sich über zwei Nachmittage erstreckender Salon zu Choreographischen Arbeitsweisen (Choreographic Modes of Work) statt. Zu der Gesprächsreihe kamen eine Gruppe von geladenen Gästen, darunter die Choreographen Amos Hetz, Thomas Lehmen und Lisa Nelson, der Forscher Scott DeLahunta und die Produzentin Eva-Maria Hoerster sowie zahlreiche Besucher an einem großen Tisch zusammen. Die Frage ‚Wie möchten Sie heute arbeiten?’ diente dabei als indirekter Aufhänger für eine Vielzahl von Themen aus den Bereichen künstlerische Forschung, Wissen und Produktivität. Wird dabei versäumt, die Bandbreite der Möglichkeiten und Praktiken im Vorfeld aufzuzeigen und somit dieser Frage Substanz zu verleihen, können epistemologische und politische Diskussionen schnell ins Leere laufen. Die Auseinandersetzung mit all diesen Fragen bei gleichzeitiger Vermeidung des plakativen Vokabulars der Wissensgesellschaft, einer kritiklosen Romantisierung der künstlerischen Praxis sowie der Versuchung, die Allgemeinplätze der kritischen Theorie herunterzubeten, verlieh der Diskussion im Salon den Charakter einer etwas absonderlichen Choreographie.

            In den Gesprächen schlug Myriam Van Imschoot eine Fokusverlagerung vom ‚Choreographen’ als Aufgabenträger hin zum ‚Choreographischen’ vor, wodurch sich der reine Personenbezug einer Vielzahl von choreographischen Aktivitäten, Haltungen, Fragestellungen, Modi, Prozessen und Produkten öffnen sollte. „Es gibt Aktivitäten mit bestimmten Merkmalen, Aufgaben, Pflichten und Methoden, die nicht notwendigerweise in einem Aufgabenträger Gestalt annehmen.“ Legt man ein noch weiter gefasstes Verständnis zu Grunde, so umfassen choreographische Arbeitsweisen den schöpferischen Akt gleichermaßen wie Kreativität, Produktion, Unterricht, Training, Dramaturgie, usw. Lepecki brachte diese Thematik auch mit den Performance Studies in Verbindung, deren Ziel nicht in der Ansammlung von Wissen, sondern vielmehr in der Schaffung von Möglichkeiten sowie in der Umwandlung der Wirklichkeit mittels der diese prägenden Diskurse, Abbildungen und Vorstellungen besteht. Fasst man den Titel des Salons noch etwas weiter, so bringt ein ’Modus’ stets eine spezifische Ausdrucksform mit sich: Dabei wird die jeweilige Substanz mit seinem Ausdruck und seiner Modifizierung in einer bestimmten Form verknüpft, wobei diese gleichzeitig den Ausdruck selbst zum Ausdruck bringt (vgl. Deleuze 1990: 13-14). Eine andere Art des Denkens oder Sprechens ist also nicht nur eine Sache des Inhalts, sondern erfordert einen anderen Modus der Arbeit, der Körpers, der Form oder des Prozesses. In dieser Hinsicht kann der Salon Choreographische Arbeitsweisen nicht auf seinen Inhalt reduziert werden – das Experimentieren mit einer neuen Art der Konversation verleiht ihm in gleichem Maße Relevanz und Gewicht.

            Wie möchten Sie heute arbeiten? Es wäre ein schier aussichtsloses Unterfangen, in diesem Rahmen einen umfassenden Bericht über den Salon abzugeben oder die Genealogie aller während der Gespräche geäußerten oder entwickelten Gedanken nachzuzeichnen. Ich möchte lediglich einige davon in Form von Fragen wiedergeben, die ich in meinem Notizbuch festgehalten habe und von denen ich hoffe, dass sie ihren offenen Charakter und ihre Relevanz trotz der Kürzung nicht einbüßen. Auch auf die Gefahr der Verallgemeinerung hin werde ich davon ausgehend einige Beobachtungen zur ‚Nichtkomprimierbarkeit’ der künstlerischen Forschung sowie zum von ihr gelieferten Wissen hinzufügen.

 

Was ist Choreographie? Worin besteht ihre Bedeutung? Inwiefern ist sie (ir)relevant für deine Arbeit? Werden die jeweiligen Prozesse im Ergebnis sichtbar? Wie kann die Offenheit des Produkts bewahrt werden? Wie ist deine Wahrnehmung bzw. Lesart hinsichtlich der verschiedenen Arbeitsweisen? Was siehst du? Was sind deine Vorstellungen? Wie können sie choreographisch umgesetzt werden? Welchen Stoff liefert dir der Blick auf die Welt durch die Brille eines Künstlers? Welche Verantwortung bringt die künstlerische Tätigkeit mit sich? Was bietest du den Menschen? Welche Reaktionen erwartest du von ihnen? Was passiert, wenn bei dir die Grenze zwischen Leben und Kunst verschwimmt? Würde dich das in die Orientierungslosigkeit stürzen?

 

Diese Fragen weisen nicht nur in ganz unterschiedliche Richtungen, sie stehen auch für eine Vielzahl von Stimmen und spiegeln eine fundamentale Handlung wider: das Wort zu ergreifen. Ein besonders auffälliges Merkmal des gesamten Salons war, wie sehr sich die Teilnehmer darum bemühten, das Wort zu ergreifen, sich Gehör zu verschaffen und am Gespräch teilzuhaben. Vielleicht war dies symptomatisch für die in Deutschland so sehr institutionalisierte Tanzszene, in der viele Künstler schlichtweg unsichtbar sind, sowie auch für einen Kongress, auf dem nur wenig Raum für Künstlerstimmen oder Publikumsbeteiligung blieb. Vielleicht wird dadurch aber auch noch etwas anderes deutlich?

In der Folgezeit des Mai 1968 schrieb der französische Soziologe und Philosoph Michel De Certeau von der ‚Eroberung der Rede’ als neuem Recht, welches dem Recht des Menschseins gleichkommt und als Bestätigung der Existenz gelten kann. Sie ist eine Geste der Verweigerung und der Anfechtung, die jegliche Identifikation zurückweist; in diesem spezifischen Zusammenhang ist sie jedoch auch „ein ‚festgehaltenes’ Wissen, dessen Erlernen die Lernenden zu Instrumenten eines Systems machen würde; Institutionen, die alle ihrer ‚Beschäftigten’ in Angelegenheiten verwickeln, die nicht die ihrigen sind; eine Autorität, die anderen ihre Sprache auferlegen will und Nichtkonformität sanktioniert und so weiter.“ (De Certeau 1997: 12-13; freie Übertragung aus dem Englischen durch die Übersetzerin). Es bedarf keiner großen Vorstellungsgabe, um die Aktualität der Worte De Certeaus zu erkennen und sie mit der heutigen ‚Wissensgesellschaft’ in Verbindung zu bringen, deren Sprache viele Bereiche durchdringt und die bereits in erheblichem Ausmaße von den Menschen verinnerlicht wurde. Die Eroberung der Rede muss stets aufs Neue wiederholt werden, damit ihre Relevanz am Leben gehalten wird, damit die Macht des legitimierten Wissens aus den Angeln gehoben wird und neue Sprachen und Ausdrucksformen entstehen können.

            Durch die Eroberung der Rede wurde allen der Zugang zu Debatten über grundlegende Themen wie Gesellschaft, Wissen, Kunst und Politik ermöglicht. Für De Certeau ist es jedoch vor allem die ausgeprägte Mehrdeutigkeit einer Geste, die politischen Wert hat und die Möglichkeit eröffnet, die Grundlage zu einer neuen Gesellschaft zu liefern. Die Eroberung der Rede schafft Differenz mittels vieler (ungehörter) Stimmen. Gleichermaßen symbolisiert sie jedoch auch die Differenz, da sie einer neuen, andersartigen Sprache der Zukunft den Weg weist. Mit ihrem zutiefst provisorischen, verwirrten und nicht reduzierbaren Charakter stellt uns die Eroberung der Rede vor eine Herausforderung: „Das Leben in der Zukunft kann nur durch die Entfremdung von der eigenen Rede gelebt werden, genau wie die Existenz enden wird, sobald wir der Versuchung des Neuerschöpfens zu widerstehen beginnen.“ (De Certeau 1997: 24)

            Wie möchten Sie heute arbeiten? Mit jeder Antwort, die man darauf gibt, stellt sich eine neue Frage: Wie spricht man über choreographische Arbeits- und Produktivitätsweisen? Oder auch: Wie spricht man über künstlerische Forschung in einer anderen Sprache als der des Neohumanismus oder der Wissensgesellschaft? Hier lohnt es sich anzumerken, dass die modernistische Hierarchie der Wissensproduktion auf dem Gebiet des europäischen Tanzes zu Fall gebracht wurde, als Pina Bausch damit begann, ihren Tänzern Fragen zu stellen und sich ihre Antworten anzuhören, wodurch sie die Positionen der Wissenden mittels der Rede neu verteilte. André Lepecki (2001: 30) beobachtet einen epistemologischen Bruch in dieser Geste Pina Bauschs, der bestehende Autoritäten untergrub und den Tanz endgültig zu einer Wissensdomäne machte – zu einem Wissensgebiet jedoch, in dem alle am Schöpfungsprozess beteiligten Personen die gleiche, vielversprechende Ausgangsbasis des „Nicht-Wissens“ teilen. Der Enthusiasmus, mit dem viele Teilnehmer das Wort ergriffen, ließ den Salon Choreographische Arbeitsweisen allerdings auch ein wenig vom Thema abdriften, was noch durch die Schwierigkeit verstärkt wurde, von Konfusion und Nicht-Wissen ausgehen zu müssen und die sich daraus ergebenden Potentiale als Konversationsmodus zu erkennen und umzusetzen.

 

Wie kann man seine Gewohnheiten außen vor lassen? Kann man Tanz überhaupt ohne Gewohnheiten gestalten? Wie steht es dann mit der Gewohnheit der Kreation oder Darbietung von Tanz? Wie trifft man angesichts der sich immer mehr vervielfältigenden Arbeitsweisen eine Auswahl? Sind klare Erwartungen im Schwinden begriffen? Worin liegt der Zusammenhang zwischen Kultur und der Erzeugung von Aufmerksamkeit? Auf welche Weise kann Kultur durch die Erzeugung von Aufmerksamkeit gewandelt werden? Wie können neue Sinnessysteme zur Erzeugung von Aufmerksamkeit erschlossen werden? Wie interpretieren wir Intentionen und Aufmerksamkeit bei anderen Menschen, um in einem sozialen Gefüge überleben zu können? Wie lässt sich die innere Aufmerksamkeit des Tänzers ausbilden? Wie wird man sich der Lücken bewusst, die man niemals schließen können wird?

 

„Könnte man noch einmal deutlicher machen, worüber wir hier genau sprechen in Bezug auf diese choreographischen Arbeitsweisen?“ Dieser von einem Teilnehmer geäußerte Klärungsbedarf angesichts einer vielschichtigen Diskussion weist auf eine weitere Art der Mehrdeutigkeit hin. Die Vagheit, die ‚choreographischen Arbeitsweisen’, ‚künstlerischer Forschung’ und damit zusammenhängenden Themen anhaftet, ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Begrifflichkeiten, da es sich um so genannte ‚Essentially Contested Concepts’ handelt. Der Definition William Gallies zu Folge sind diese beurteilungsoffen, in ihrem Inneren komplex und anfänglich auf unterschiedliche Weise beschreibbar, jedoch auch den Umständen unterworfen und somit äußerst formbar (Gallie 1956: 171-172).  Kennzeichnend für diese Konzepte ist eine ausgeprägte Vieldeutigkeit, in der eine gemeinsame, verallgemeinerte Intuition mit der Herausbildung spezifischer Ansichten, Haltungen und Handlungen einhergeht. Die Offenheit und der performative Charakter dieser Konzepte ermöglichen eine andere Herangehensweise bei der Erkundung der Wirklichkeit, bei der es nicht darauf ankommt, einen objektiven und allgemeingültigen Erklärungsansatz zu finden, sondern durch die Freiräume für das Einzigartige, Ungewisse und Willkürliche eröffnet werden. Es geht also nicht um universalistische Ansprüche und Gewissheiten, sondern um eine nachhaltige kritische Reflexion der ‚Gegenwart’.

            In seinem Essay ‚Was ist Aufklärung?’ schlägt Michel Foucault vor, die Moderne und die Aufklärung als kritische Haltung zu sehen, als eine reflexive Art des Gegenwartsbezugs (1984; vgl. Boomkens 2006: 24-27). Er entwirft die Umrisse einer ‚historischen Ontologie unserer selbst’ als philosophisches Unterfangen. Dabei handelt es sich um eine liminale, experimentelle und unablässig fortwirkende Haltung, bei welcher die Kontingenzen erforscht werden, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind, und die es uns ermöglichen, anders zu sein. Ein besonderes Gerüst aus Praktiken und Diskursen dient dabei als Bezugsrahmen: Was tun, denken und sagen die Menschen, und auf welche Weise geschieht dies? Und mit welcher Freiheit handeln sie innerhalb von Systemen und verändern dabei die Spielregeln? Vor dem Hintergrund bestehender Gewohnheiten und Ansichten wird die gegenwärtige Wirklichkeit zum Prüfstein unserer eigenen Grenzen und unserer Möglichkeitssinn. Eine Ontologie der Gegenwart liefert nur vorübergehende, partielle und örtlich begrenzte Antworten, sie muss als Prozess verstanden werden und bleibt naturgemäß vage, da sie uns an die Grenzen unseres Verstehens bringt. Betrachtet man choreographische Arbeitsweisen als eine Gesamtheit von Praktiken, dann lag der eigentliche Zweck des Salons wohl darin, eine Ontologie der Gegenwart in Angriff zu nehmen. Wie möchten Sie heute arbeiten?

 

Bedeutet künstlerische Tätigkeit einen Sprung ins Ungewisse? Welche Eingebungen, Erinnerungen oder Entscheidungen begleiten Sie und schaffen die Grundlage für Kreativität? Welches sind die Voraussetzungen dafür, in einen Zustand des Nicht-Wissens einzutreten? Wie kann man auf die Melodie der Worte, auf Gesten, auf Pausen und Zögern achten und sich vom Unbekannten weniger bedroht fühlen? Wie geht man mit der eigenen Geschichte, den eigenen Wünschen, Geheimnissen und verborgenen Kräften um? Wie entdeckt man die Seele eines Stückes, ohne seine eigene Seele hineinzuprojizieren? Wie reflektiert man die Welt ohne jegliche Handlungsanleitung? Wie steht es mit der Macht des Choreographen als Urheber? Was ist mit Improvisation? Wie lässt man das Leben außerhalb des Theaters in choreographische Strukturen einfließen? Wie gelangt man zur äußeren Welt? Wie lernt man zu begreifen, dass es auch andere Perspektiven gibt?

 

Choreographische Arbeitsweisen und das daraus entstehende Wissen sind mit den Handlungen und Erfahrungen der Menschen verbunden. Ein roter Faden des Salons waren die Grenzen unseres Verstehens und Handelns, ausgedrückt im Verlangen, einen Bezug zum Unbekannten herzustellen oder sich im Rahmen seiner Arbeit in einen Zustand des Nicht-Wissens zu begeben. Anstatt den Tanz als das Andere innerhalb von Kultur zu feiern, erfordert dies die Berücksichtigung des Subjektsbegriffs, wie es in der künstlerischen Forschung anerkannt ist. Dabei geht es darum, eine bescheidene Haltung gegenüber Wissen und Nicht-Wissen einzunehmen.

Generell wurden zwei Arten von Heteronomie diskutiert: Erstens, die produktionsspezifischen Umstände, die kanonische Legitimität, die wirtschaftlichen Aspekte, die Politik der Sichtbarkeit und andere äußere Umstände, welche der Autonomie des Künstlers zuwiderlaufen. Und zweitens die technischen Fähigkeiten und die fehlende Kontrollierbarkeit, die Frage der Urheberschaft und die Schwierigkeit, die Seele eines Stückes zu erfassen, oder auch die fast schon autonome Logik einer Methode, usw. All diese Aspekte rufen uns die Grenzen und die instabile Position des wissenden Subjekts ins Bewusstsein, welches nicht für alle Probleme durchlässig, sondern vielmehr zutiefst verletzlich ist. Dabei muss nicht gesondert darauf hingewiesen werden, dass beide Kategorien das Konzept des modernen, aufgeklärten Subjekts sowie den selbstbewussten Voluntarismus der Wissensgesellschaft auf die Probe stellen, in der wir alle unsere eigene Realität in den Händen haben und uns lieber Wissen erkaufen und ‚ergooglen’, anstatt unseren eigenen Erfahrungsschatz aufzubauen, der “personhaft integrierte, erzählerisch und begrifflich geordnete Komplexe des Wissens” (vgl. Sloterdijk 2006: 344, 93-96) umfasst.

            Wie möchten Sie heute arbeiten? Wie denkt, redet und handelt man durch die Heteronomie hindurch? Dies ist eine grundlegende Fragestellung in Bezug auf die Subjektivität, die in der künstlerischen Forschung und der Frage nach der Ontologie der Gegenwart auftritt. Foucault verweist auf die Gegenwart als Prüfstein, um die bedeutenden Narrativen und Projekte der Moderne außen vor zu lassen und die Umgebung schlichtweg mit Hilfe des kritischen Bewusstseins zu formen und zu gestalten. Meinungsverschiedenheiten kennzeichneten auch eine Diskussion im Salon, die von Thomas Lehmens Vorschlag angestoßen wurde, die Kunst und andere menschliche Aktivitäten als „Erschaffung eines Stücks Welt” zu betrachten. Wird damit eine Parallelwelt geschaffen, hinzugefügt oder umgewandelt? Wer hat Zugang zur Erschaffung der Wirklichkeit bzw. zu den Vorstellungen und Bildern, die dieser Wirklichkeit Gestalt geben?  Worin besteht die Rolle des Künstlers? Welche Weltanschauung steht dahinter? Sind wir tatsächlich die Gestalter unseres eigenen Lebens und seiner Umstände? Je gewichtiger die besprochene Thematik wurde, desto heikler wurde die Diskussion zu den choreographischen Arbeitsweisen und desto mehr gingen die Meinungen auseinander.

            Auch wenn die Diskussion inhaltlich kaum zu einem Ergebnis kam, so wurde die Heteronomie als alternativer Modus der Produktion von Rede jedoch explizit im Rahmen des Salons thematisiert: als choreographiertes Gespräch, das als ‘offene Improvisation’ begonnen hatte und sodann spielerische Züge und Strukturen annahm. Am zweiten Nachmittag brachte Myriam Van Imschoot eine neue Partitur ins Spiel, bei der ein Teilnehmer das Wort an den nächsten in Form einer Fragestellung weitergeben sollte, wobei die anderen sich mit ‚Rufen’ nach Erklärungen und Ergänzungen oder in dringenden Fällen beteiligen konnten. Dadurch wurde die Rede neu aufgeteilt und es entstand Raum für Veränderungen: Das Wissen lag nunmehr im unumstößlichen und nicht-komprimierbaren Handeln. Anstelle eines Schlussworts zog Myriam Van Imschoot es vor, in der Dichte der Diskussion zu verweilen, folgte einem Vorschlag von Lisa Nelson und lud alle Teilnehmer dazu ein, ihre Augen zu schließen und sich im Dunkeln tappend auf die Reise zu machen.

 

Noten

(1) Dieses Essay bezieht sich auf den Salon Choreographische Arbeitsweisen, der am 21. und 22. April 2006 im Rahmen des ‚Tanzkongress Deutschland’ im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, unter der Leitung von Performancetheoretiker André Lepecki und Dramaturgin Myriam Van Imschoot stattfand.

(2) Für eine aktuelle kritische Analyse der ‚Wissensgesellschaft’ und ihrer Terminologie in Bezug auf Humanismus und Bildung, vgl. Liessmann 2006.

 

Bibliographie

Sämtliche kursiv gedruckten Fragen gehen auf Beiträge der Teilnehmer des Salons Choreographische Arbeitsweisen zurück. Mein Dank geht an Pirkko Husemann, André Lepecki und Myriam Van Imschoot für Ihre Vorschläge und Anmerkungen zu diesem Essay.

Boomkens, René (2006): De nieuwe wanorde. Globalisering en het einde van de maakbare samenleving, Amsterdam: Van Gennep.

De Certeau, Michel (1997): The Capture of Speech and Other Political Writings, Luce Giard (ed.), Minneapolis/London: University of Minnesota Press.

Deleuze, Gilles (1990): Expressionism in Philosophy: Spinoza, New York: Zone Books.

Foucault, Michel (1984): ‘What is Enlightenment?’. In The Foucault Reader, P. Rabinow (ed.), New York: Pantheon Books, S. 32-50.

Gallie, W.B. (1956): ‘Essentially contested concepts’, Proceedings of the Aristotelian Society 56, S. 167-198.

Lepecki, André (2001): ‘Dance without Distance’, ballettanz 2, S. 29-31.

Liessmann, Konrad Paul (2006): Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien: Paul Zsolnay Verlag.

Sloterdijk, Peter (2006): Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.