Der Mann im Zentrum und die Frau ohne Ort

Wanda Golonkas sechster Antigone-Abend im Frankfurter Schauspiel

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 17 Mar 2003German

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Contextual note
Throughout this season, choreographer Wanda Golonka has staged a cycle of small interventions all over the theatre building based on Sophocles "Antigone".

Schuhe, überall schwarze Schuhe. Ordentlich in vier Reihen aufgestellt, einige stehen auf dem Boden, andere auf weißen Steinen, Herrenschuhe und Damenschuhe, die Kappen und Spitzen stets nach vorne. Schuhe markieren auf der Hinterbühne des Frankfurter Schauspielhauses eine Spielfläche, die die Tänzerin Veronique Dubin im sechsten Stück von Wanda Golonkas Performance „An Antigone“ jedoch nie betritt. Eine meterhohe Tür öffnet sich und lenkt unseren Blick statt dessen in die Ferne, wo eine schwarze Gestalt an der Wand lehnt. Ihre Arme hat sie über ihrem Kopf verschränkt, das Gesicht in sie vergraben, bevor sie sich plötzlich umdreht. Zu schnittiger Technomusik schreitet sie die schmale Lichtbahn bis zu uns herüber, reißt abwechseln die linke und die rechte Schulter vor, die nackten Füße mit Klebeband auf zwei gewellten Holzscheiten befestigt. Im rechten Winkel geht es nach vorne, sie macht erneut eine neunzig Grad Drehung, die sie hinter den eisernen Vorhang in einen anderen Raum führt, wo sie unvermittelt inne hält.

Hier verteilt sich das Publikum auf ein paar Sitzreihen. Der Vorhang hebt sich und gibt nun von der anderen Seite den Blick auf das Feld der Schuhe frei. Veronique Dubin löst ihre Fußfesseln und wirft das schwarze Oberteil ab. Darunter trägt sie ein Kleidungsstück, das ihre Arme und ihre Brust bedeckt, den Brustkorb und den Bauch aber freilassen. Scharf zeichnen sich ihre Rippen ab, verändert sich ihr Bauch mit jedem Atemzug. Rhythmisch atmet sie ein und aus, scheint ein ganzes Gedicht nur mit ihrem Körper zu sprechen. Während sie langsam an uns vorbei geht, öffnet sich eine Tür auf der anderen Seite. Eine dunkle Gestalt lehnt am Türrahmen, die langsam zur Bühnenmitte vorschlendert.

Während Dubin lautlos und Schritt für Schritt den Weg rückwärts zurücklegt, den sie gekommen ist, macht sich der Schauspieler Samuel Zach in der Mitte zwischen den Schuhen breit. Schwarz gekleidet zupft er manchmal an einen schwarzen Plissecape, das ihm am linken Bein hängt. Wie ein Torrero, der den Stier im Blick behält, tänzelt er auf und ab, hebt einen Schuh auf und stellt in auf den Boden, plaziert ihm einen zweiten gegenüber: Die Zeichen stehen auf Konfrontation. Dann zählt er die Statistiken der Interessen- und Handelsverbände in Deutschland auf. Unter 216 Vorstandsmitgliedern findet sch gerade einmal eine Frau. Die Frau, die am Rand das Aktionsfeld des Mannes absteckt, das sie jedoch nie betreten kann, während das Mann das Zentrum beherrscht – an symbolischer Aussagekraft sind diese beiden neuen Mitteilungen „An Antigone“ fast schon zu deutlich. Lange hält Wanda Golonka die Spannung zwischen den Geschlechtern, die sich gegen Ende jedoch verliert, hält die Sprachlosigkeit zwischen dem Herrscher und der Frau aus, die unter seinem Gesetz keinen eigenen Ort finden kann.