Bambus-Träume

Das Cloud Gate Dance Theatre mit Lin Hwai-Min bei den Wiesbadener Maifestspielen

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Contextual note
The Cloud Gate Dance Theatre from Taiwan has been a regular guest in the Frankfurt region since 1995.

Nebel schiebt sich zwischen die Bambusstämme auf die große Bühne des Wiesbadener Staatstheaters. Ein Mann (Hwang Sheng-Kae), ganz in weiß gekleidet, sitzt auf dem Boden. Die langanhaltenden Töne seiner Flöte erfüllen die Luft. Allmählich erwacht der Wald. Sieben Männer erscheinen nach und nach zwischen den Bäumen. Tief ins Plié gebeugt, das Gewicht nach einer Seite verlagert, den Oberkörper flach nach vorne gestreckt, bewegen sich die sieben Tänzer zwischen den dünnen grünen Stämmen des Bambushains hindurch. Ein bißchen sehen die sieben Weisen in ihren weißen kimonoartigen Anzügen mit den überlangen Ärmeln aus wie Waldgeister. Wenn sie sich drehen, fliegen ihre Ärmel hoch auf und verwischen so die Konturen ihrer Körper.

Wie alle Choreographien Lin Hwai-Mins besticht auch „Bamboo Dream“ durch die Klarheit seiner Bilder und Bewegungen. Von allem überflüssigem Zierat befreit und gereinigt präsentiert er die geläuterte Essenz von Gefühls- und Bewußtseinszuständen, die er hier gleich in drei natürliche Bezugssysteme einbettet. Vom Ablauf des Tages, der mit frühmorgendlichem Dunst beginnt und um Mitternacht endet, über die verschiedenen Wetterlagen bis hin zum Zyklus der Jahreszeiten erzeugen seine konzentrierten, in sich ruhenden Tänzer Stimmungen, die mit der Vorstellungen von Natur korrespondieren. Der Kreislauf eines Tages und eines Jahres spiegelt sich so mit den Erfahrungen eines Menschenlebens. Lins Technik, die auf Martha Grahams straffen, muskulär angespannten modern dance basiert, erscheint hier tatsächlich als Mittel, den Körper zum Denken zu bewegen.

In den sieben Szenen des Stücks wechselt Lin Hwai Min von Gruppenchoreographien zu Duetten oder Soli. Die junge frische Liebe der Frühlingsbrise weicht in „Autumn Path“ einem Duo mit reiferen Tänzern, die sich mit spitzen pointierten Bewegungen kämpfend umeinander bemühen, bevor sie mit ausgestreckten Armen am Ende doch verschiedene Wege einschlagen. „At Midnight“ ist das Solo einer Frau allein im Bambuswald, die verzweifelt hin und her laufend nach Erlösung sucht. Dazwischen besticht Lin Hwai-Min mit Gruppenchoreographien wie etwa „Summer Heat“, in dem vierzehn Tänzer und Tänzerinnen mit hängenden Gliedmaßen von der Hitze erdrückt durch den Bambuswald stampfen und sich auf den Boden auf die Seite legen.

Am Ende kommt der Flötenspieler zurück. Aus dem Schnürboden rieselt leise der Schnee, während sechs Tänzerinnen in roten Kleidern sich langsam auf die Bühne schieben. Sechs Männer mit Ventilatoren folgen ihnen, legen sich hinter ihren Körpern auf den Boden und lassen so von unten ihre langen Haare und Kleider auffliegen, bis die Frauen aussehen wie wunderschöne zu Eisblumen erstarrte Gebilde.

Lin Hwai-Min weiß um die Nähe zum Kitsch, in der sich seine schönen Bilder befinden. Doch bevor es soweit kommt, bricht er sie jedesmal klugerweise ab. Plötzlich kommt das Ensemble mit Kokosbesen auf die Bühne und beginnt, den Schnee zusammenzufegen. Die Rückwand hebt sich und gibt die nackte Hinterbühne des Theaters frei. Techniker laufen auf die Bühne, geben Anweisungen und bauen den Bambuswald ab. Der Traum ist ausgeträumt. Für die Wiesbadener Maifestspiele, dessen Tanzprogramm „Bamboo Dream“ eröffnet hat, hat er gerade erst begonnen.