Eine menschliche Komödie

Die inbal Pinto Dance Company aus Isreal zeigt "Oyster" bei den Wiesbadener Maifestspielen

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 17 May 2003German

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Contextual note
The Maifestspieel in Wiesbaden have a long standing tradition that goes back before the First World War. The dance programme which has gone down the drain over the past years is just about to be revived.

Kalt pfeift der Wind über die Bühne des Wiesbadener Staatstheaters. Irgendwo läuten Glocken. Der üppig verzierte Proszeniumsbogen ist mit einer kargen Lichterkette behangen, die ungefähr so viel Freude ausstrahlt wie ein Jahrmarkt, dessen Buden geschlossen sind. Weiter hinten befindet sich eine türartige Öffnung, die ebenfalls von ein paar nackten Glühbirnen gerahmt wird. Durch diese Pforte erscheinen die Gespenster der Menschheit weißgeschminkt mit roten Bäckchen und zersausten verstaubten Perrücken. Ein Gummimensch im schwarzen Anzug, der so herrlich biegsam sein Gewicht zur Seite verlagern und in die Knie gehen kann, bevor er sich bei den Rockschößen packt und wieder aufrichtet. Eine Ballerina, die ihr linkes Bein hinter ihren Kopf geklemmt hat und auf dem rechten nach vorne zur Rampe hüpft, wo sie weder umdreht, die Beine wechselt, um wieder nach hinten zu verschwinden. Ein fahrbares Gestell wird von einer Tänzerin, deren Stuhl an ihrem Hintern festgewachsen ist, herein gerollt, begleitet von einem Faktotum, das gerne mal zwei Tänzerinnen an der Hundeleine führt. Auf dem Wagen thront ein merkwürdiges Doppelwesen, zwei Männer, die wie siamesische Zwillinge zwei Köpfe, aber nur einen Körper haben.

Die junge israelische Choreographin Inbal Pinto und der Regisseur Avshalom Pollak halten der Welt in ihrem 1999 uraufgeführtem Stück „Oyster“ (zu deutsch „Auster“) den Zerrspiegel vor. Das Stück war im Rahmen einer kleinen Tournee nun zu Gast bei den Wiesbadener Maifestspielen. In ihm erscheinen Karikaturen aus dem 19. Jahrhundert, die an Struwwelpeter und Paulinchen und an die mechanische Puppe Olimpia aus E.T.A. Hoffmanns Geschichte vom Sandmann erinnern, ohne jedoch jemals deren Grausamkeit und unerbittliche Schärfe zu erreichen. Das macht „Oyster“ zu einem netten und pussierlichen, aber auch unverbindlichem Abend. Ein paar schärfere Kanten hätten der Auster gut getan. Herr und Knecht, Herrscher und Untergebene, Liebe, Eifersucht und schiere Verzweiflung: all das bieten Pinto und Avshalom in ihrem surrealen Panoptikum, das mit wenigen Mitteln überraschende und witzige Bilder erzeugt.

Zu kitschigen Geigen und sentimentaler Klavierbegleitung erleben wir eine Parade der Eitelkeiten etwa wenn sich eine Gruppe Tänzerinnen in fleischfarbenen Rüschentrikots, die Knie leicht gebeugt und Hüfte nach vorne, in einer Reihe auf die Bühne schiebt. Mit spitzen Mündern blicken sie ins Publikum und drehen kokett ein Bein nach außen. Kaum erscheint ein Pinguin im Frack, wirft sich ihm eine an den Hals und schiebt ihn von der Bühne, wobei die Musik prompt aufhört zu dudeln, bis das Paar wieder hereintorkelt. Gestalten ohne Arme formieren sich zu einer Showtruppe, während zwei Tänzerinnen ihren ganzen Ausdruck in ihre Hintern legen. Gerahmt von rosafarbenen Tütüs sehen sie aus wie zwei Köpfe, die auf zwei Beine montiert wurden. „Oyster“ ist eine unterhaltsame Comédie Humaine, die mit nur 60 Minuten Dauer sicher nicht zu lang geraten ist.