Corpus delicti - Spiel und Ernst

key lecture of "Tanztendenzen“ Greifswald 2007

Lecture 1 Oct 2007German

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Contextual note
edited lecture held at the opening of "tanztendenzen" Greifswald 2007

Ich beginne mit zwei Zitaten und einem kleinen Gedankenspiel. Das erste stammt von dem niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga und lautet: „Der Tanz ist eine besondere und besonders vollkommene Form des Spielens.“

Das andere Zitat kommt von einem Philosophen, der seine theoretischen „Gedankengebäude“ als einer der wenigen auch konkret, nämlich architektonisch umgesetzt hat. Ludwig Wittgenstein beteiligte sich Ende der Zwanziger Jahre am Entwurf und Bau eines Stadtpalais in Wien. Seine Doppelkarriere ist insbesondere deshalb interessant, weil die Architektur in direktem Zusammenhang mit dem Bewegungsradius von Menschen steht. Als bauliche Aufteilung von Raum, bestimmt sie im Städtebau oder durch die Strukturierung von Gebäuden wesentlich mit über den Aktionsraum und die Mobilität von Körpern. Das Zitat, das ich ausgewählt habe, betrifft zwar eher Wittgensteins Kernbereich der Logik und Sprachphilosophie. Als Person bildet dieser Philosoph allerdings ein gutes Beispiel dafür, dass der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis, Wissenschaft und Kunst sehr oft direkter und komplexer ist, als angenommen. Wittgenstein vergleicht unseren Umgang mit dem System der Sprache, bzw. die Sprache selbst mit einem Spiel: „Wir sind unfähig, die Begriffe, die wir gebrauchen, klar zu umschreiben - nicht, weil wir ihre Definition nicht wissen, sondern weil sie keine wirkliche „Definition“ haben. Die Annahme, daß sie eine solche Definition haben müssen, wäre wie die Annahme, daß ballspielende Kinder grundsätzlich nach strengen Regeln spielen.“

Ein „Spiel“, das sich seinem Wortursprung nach interessanter Weise vom altdeutschen „spil“ für „Tanzbewegung“ ableitet, hat mehrere kennzeichnende Eigenschaften. Es ist eine Handlung oder Beschäftigung, die keinem äußeren Zweck dient und ihr Ziel in sich selbst hat. Das Entscheidende am Spielen ist nicht sein Ergebnis, sondern die Tätigkeit selbst, was nicht zu verwechseln ist mit dem Wort „Spielerei“, das wir synonym für etwas Belangloses ohne weiterführende Bedeutung verwenden.

Wenn Wittgenstein die Sprache ein Spiel nennt und behauptet, Begriffen lägen keine allgemeingültigen Definitionen zu Grunde, widerspricht er damit der Art, wie wir die Sprache ständig und im Gegensatz zum Körper zu gebrauchen meinen: eindeutig, rational, pragmatisch und für denjenigen, mit dem wir kommunizieren, verständlich oder wenigstens übersetzbar. Der Begriff des Spiels nun, auf Tanz, ebenso wie auf Sprache angewendet, verweist darauf, dass beide erst und allein in ihrer Ausführung eine und ihre eigentliche Bedeutung finden: im Tanzen, im Sprechen. Wie im Spiel werden verbindlich, aber freiwillig gewisse Regeln festsetzt, die immer nur für eine bestimmte Zeitspanne Gültigkeit haben - nämlich so lange wie man die Entscheidung für sie aufrecht erhält und sie aktiv anwendet. Das unterscheidet die Spielregel von der Norm.

Wohin führt dieser Exkurs? Tanz als Spiel? Sprache als Spiel? Beides schließt einen Begriff von „Regel“ und von „Sinn“ / „Bedeutung“ ein, der in sich beweglich, flexibel, prinzipiell offen bleibt. Der so viel beschworene Gegensatz zwischen dem starren, eindimensionalen Wort und der fließenden, poetischen Bewegung scheint plötzlich zu verschwimmen. Dabei ist die Vorstellung einer Sprache, die unabhängig davon, wie wir sie anwenden, gar nicht existiert, zwar ungewohnt, aber weder abwegig noch abstrakt. Jeder von uns kennt die Erfahrung, dass verbale Kommunikation niemals reibungslos funktioniert, und sich Aussagen nicht wie mathematische Gleichungen von ihrem Empfänger in ihren reinen Informationsgehalt auflösen lassen.

Die Spielidee betont darüber hinaus ein Moment der individuellen Verantwortung, die „ins Spiel“ kommt, wenn Sprache und Tanz wie das Spiel nur in ihrer Anwendung und von ihren Anwendern gestaltet, ja gemacht werden.

Zeitgenössischer Tanz hat sich denkbar weit von der bindenden Autorität der einen übergeordneten, nicht individuellen Körpertechnik entfernt (wie es lange Zeit das klassische Ballett oder der Modern Dance gewesen sind). Film, Sprache, sogar Bewegungslosigkeit werden von Künstlern als Mittel choreografischen Ausdrucks eingesetzt. Choreografen kümmern sich nicht darum, ob sie einer oder unserer Definition von Tanz entsprechen. Sie definieren den Tanz durch ihr Tanzen oder das, was sie als solches begreifen, immer wieder neu. Das heißt nicht, dass sie ihn jedes Mal komplett neu erfinden, aber dass Tanz jeweils das Angebot ist, das uns von ihnen gemacht wird. Wären wir Kritiker, Zuschauer, Politiker in unserem Umgang mit Sprache ähnlich aufmerksam, selbstkritisch und beweglich wie viele zeitgenössische Choreografen es im Umgang mit dem Körper sind, würden wir mit den Irritationen, die entstehen, wenn man unsere Wahrnehmung in der Kunst dergestalt herausfordert, sicher umsichtiger umgehen.

Leslie Mannès spielt in „Delusive Figures“ anschaulich durch, wie die bloße Art ihrer Inszenierung den Blick auf drei Frauenkörper manipulieren und verändern kann. Ob kopflos im Karton verpackt oder als starre Anziehpuppe - indirekt hat hier immer auch der Betrachter seine Hände im Spiel, der die Tänzerinnen ihm gegenüber abschätzt, einordnet und mal nur als skurril verknotete Fleisch-Objekte, mal als ganz normale Passantinnen erkennt. Mannès bildet diesen Vorgang in einer Szene regelrecht nach, wenn Hände einen Körper „begreifen“, auch hier wieder wörtlich gemeint, und ihn dabei im gleichen Moment verzerren und verformen.

Begriffe wie „Identität“ oder „Kultur“, die im gesellschaftlichen Diskurs heute so gern dazu benutzt werden, Fronten zu ziehen, zum Beispiel in Zusammenhang mit dem schwer belasteten Verhältnis der so genannten „westlichen“ zur so genannten „islamischen“ Welt, werden von uns leider selten mit entsprechender Umsicht benutzt. Dann werden sie zu scheinbar feststehenden Definitionen, die uns ausmachen sollen, statt dass offensichtlich wird, dass wir es sind, die sie heute, hier und jetzt machen und mit Inhalt füllen.

Der Körper ist deshalb ein so existenzielles künstlerisches Medium, weil er uns Gemeinsamkeit suggeriert - schließlich haben wir alle einen Körper - und weil er die Differenzen und Nuancen unserer individuell verschiedenen Wahrnehmung umso schärfer erkennen lässt. Versuchen wir, ihn wie ein Buch zu lesen, stellt er uns vor Rätsel. Eigentlich, und darauf weist die Spiel-Metapher hin, konfrontiert er uns aber mit Momenten der Irritation und der Verunsicherung, die wir in unserem Alltag ständig erleben, aber aus Gründen der Zeit- und Aufmerksamkeitsökonomie zu überbrücken gewohnt sind.

Der Tanz hat unter den Künsten in Europa von Anfang an für seine Eigenständigkeit und Anerkennung kämpfen müssen. Bis heute konnte er im bürgerlichen Kultur-Bewusstsein nicht ähnlich Fuß fassen wie die Oper oder das Sprech-Theater. Auf der anderen Seite erleben wir zurzeit eine neue Popularität des Körpers in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion.

Der Körper, wie er bei Selbstmordattentaten zur tödlichen Waffe pervertiert wird, rückt, aufgeschlüsselt in die Daten seiner äußerlich erkennbaren Merkmale und Verhaltensweisen, in den Fokus der Rasterfahndung. Wir entwerfen Muster, die Körper und Menschen, welche eine potenzielle Bedrohung für uns darstellen könnten, unter allen anderen erkennbar machen sollen. Solche Muster haben nichts Spielerisches. Sie erklären ein Individuum ohne Ansehen seiner/ihrer Person oder Biografie aufgrund der Übereinstimmung mit dem Profil eines Computerprogramms zum verdächtigen Subjekt. Konzentrierte man sich dabei noch vor ein paar Jahren auf das Erfassen von Auffälligkeiten, gilt in der so genannten „negativen“ Rasterfahndung heute die Unauffälligkeit als erstes Verdachtsmoment - aus der Erfahrung, dass ihre Integriertheit und Angepasstheit viele spätere Täter auszeichnete. Das gibt einem zu denken, was die Tragweite einer solchen präventiven Suche nach der Norm des Unauffälligen für ein Gesellschaftsgefüge anbelangt.

Szenenwechsel, zurück zur Kulturpolitik. In einem ganz anderen, kulturpolitischen, Gebiet hat man den Tanz zur Bundesangelegenheit erklärt: Mit dem „Tanzplan Deutschland“ hat die Bundeskulturstiftung erstmals ein Förderprogramm für Tanz bis 2012 aufgelegt. Die „Tanz-in-der-Schule“-Projekte, die mit zeitlichem und inhaltlichem Bezug auf die Popularität des Kino-Dokumentarfilms „Rhythm is it!“ über ein Projekt der Berliner Philharmoniker mit dem Choreografen Royston Maldoom und Berliner Schülern vielerorts entstanden sind, kommen der steigenden Nachfrage kaum noch nach. Im Feld „Kulturelle Bildung“ übernimmt der Tanz eine Art Vorreiterrolle. Man traut ihm zu, dass er eine Form des eigenverantwortlichen Lernens und eine Dimension von Selbsterfahrung, Selbstorganisation und Selbstreflexion fördern kann, welche die PISA-Studie seinerzeit im deutschen Schulsystem zu wenig berücksichtigt fand.

Wird Tanz in der Debatte über kulturelle Bildung in seiner positiven Wirkung auf die persönliche Entwicklung von Jugendlichen genauer beschrieben, macht einen das Vokabular, das sich dazu ausbildet und indirekt Erwartungen mitformuliert, die man politisch an ihn knüpft, allerdings oft stutzig. Da ist zum Beispiel die Rede von „kultursensitiver Innovation beim Sport“. Oder vom „Kompetenznachweis Kultur“. Dieser so genannte „Bildungspass“ der in Remscheid ansässigen „Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V.“ wird ab 12 Jahren vergeben und soll weit mehr dokumentieren als nur die Teilnahme seiner jugendlichen Inhaber an künstlerischen und kulturpädagogischen Angeboten. Festgehalten werden darin ihre „individuellen personalen, sozialen, methodischen und künstlerischen Kompetenzen.“ Die ergänzende Vorlage eines solchen Passes beispielsweise zu den üblichen Unterlagen bei einem Bewerbungsgespräch wird in der Wirtschaft begrüßt. Der „Kompetenznachweis Kultur“ liefere „brauchbare Zusatzinformationen für die Personalauswahl (...), die einem Lebenslauf und Zeugnissen nicht zu entnehmen wären“.

Einen Schritt zurück: Pädagogisch setzt man in Tanz als besondere Form des künstlerischen Unterrichts die Hoffnung auf positive Impulse für das Lernverhalten, weil er das Vertrauen in die eigenen Ausdrucksmittel mit einem Zurechtfinden im eigenen Körpers koppelt. Durch das Gestalten von Räumen durch Bewegung schafft Tanz gleichzeitig ein Bewusstsein dafür, wie Regeln sich nur aus dem Sinn ihrer jeweiligen Anwendung in einer Situation herleiten. Das ist es, was Tanz zu einem Feld macht, das vergleichbar wird mit verantwortungsbewusstem gesellschaftlichem Handeln und das auf letzteres vorbereiten kann - in einer Welt, die weniger von Sicherheiten als von Unwägbarkeiten, Verschiebungen, kulturellen und ökonomischen Wanderbewegungen bestimmt ist und die uns in der Tat zwingt, uns ständig neu in ihr zurecht zu finden. Der Begriff von körperlichem Wissen, der, als neue Schwerpunktsetzung „body turn“ genannt, momentan eines der meist bearbeiteten Felder der Soziologie und Kulturwissenschaften darstellt, betrachtet dieses Wissen deshalb als so bedeutsam, weil es nicht kategorisierbar ist in allgemeinen Bewertungsmaßstäben und nur gebunden an den Wissensträger existiert.

Ich möchte hier nicht die Wichtigkeit in Frage stellen, die der Kulturellen Bildung zukommt. Trotzdem stören wir das „vollendete Spielen“ der Kunst als Zugang zu Welt, welches uns überhaupt erst den Spielraum und die Verantwortung gibt, in der wir uns in ihr auf so perspektiverweiternde Weise wieder finden können, empfindlich, wenn wir es nur mehr als zweckgerichtete Dienstleistung begreifen. Das freie Spielen wird in dem Moment zum Sport, wenn es um gutes oder schlechtes, erfolgreiches oder mangelhaftes Spielen geht. Ihre Selbstbestimmtheit und Zweckfreiheit ist das utopische Potenzial, das die Kunst in unserer Gesellschaft der Kosten-Nutzen-Rechnungen aufrechterhält. Gibt man sie auf, enden wir beim Gegensatz der Lebendigkeit von Tanz und Sprache: bei Kategorisierungen, Kalkül und feststehenden Definitionen.

Saskia Hölblings Solo „Exposition Corps“, das wir gleich im Anschluss sehen, ist für mich ein Plädoyer für das, was ein Körper zu sagen hat, wenn man auf ihn hört und weniger danach fragt, welchen Gewinn er abwirft oder welchen Erwartungen er gerecht werden kann. Ausgestellt auf einer Plattform, setzt die Tänzerin bei ihrem körperlichen Bewusstsein an und dem, was es angesammelt hat: Erinnertes, Aufgestautes, Spontanes, Verdrängtes, nie Ausformuliertes, Übernommenes, Aufgezwungenes, Gewähltes, Kreiertes. Hölbling übersetzt nichts davon in gegenständliche szenische Bilder. Sie stellt im eigentlichen Sinn auch nichts dar. Sie bleibt so dicht wie möglich an der Logik ihres Körpers, den man sich winden und verwandeln sieht wie eine Raupe in einer endlosen Metamorphose, die sie ständig zu etwas anderem, wenn auch nie zum Schmetterling macht. Der äußerliche Druck, dem wir in der Gesellschaft ausgesetzt sind, der uns vorschreibt, was wir leisten, wie wir aussehen, was wir kaufen und wen wir fürchten sollen, ist enorm. So enorm, dass Saskia Hölbling manchmal wirkt, als stemme sie sich mit all ihrer Muskelkraft dagegen. Mit „Exposition Corps“ verbindet sich für mich die Erinnerung an das Recht auf und die Pflicht zu eigener Erfahrung, und das ist etwas anderes als die Events unserer Erlebniskultur. Ludwig Wittgenstein hat es für sich so formuliert: „Die Arbeit an der Philosophie ist - wie vielfach die Arbeit in der Architektur (und ich füge hinzu: wie vielfach die Arbeit im und mit dem Tanz) - eigentlich mehr die/eine Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht (Und was man von ihnen verlangt).“