history is watching you

Mit Yvonne Rainer und Xavier Le Roy machen zwei Tanz-Generationen in ihren Choreografien von „Le Sacre du Printemps“ den Zuschauer zum Instrument, werfen ihn zurück auf sich selbst und setzen ihre Autorität aufs Spiel.

Theater der Zeit 1 Oct 2007German

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Vom Sofa aus die Welt sehen. Passiv aktiv sein. Dieser Perspektive verdankt das Medium Fernsehen viel von seiner Effizienz und Suggestionskraft. Bewegungslos und isoliert sitzt der Zuschauer weich gebettet und konsumiert, die Chipstüte in der Hand, das Zeitgeschehen. Immer schon vermittelt und doch „aus erster Hand“. Bis auf die Chipstüte und die Isolation hat er das mit einem Theaterbesucher gemein.

Relativ neu im ständig wachsenden Angebot der TV-Sende-Formate ist die historische Abenteuer-Reportage. Von Moderatoren als Ermittlern „live aus der Geschichte“ reißerisch kommentiert, kann man da frei nach Bestseller-Autor Dan Brown herausfinden, ob Maria Magdalena wirklich Kinder mit Jesus hatte oder dabei sein, wenn mittels Computertechnik die Körbchengröße von Nofretete rekonstruiert wird. Schauspieler verkörpern die Akteure und Hypothesen der Historie. Die Wissenschaft wird zum Drama, die Überlieferung entfiktionalisiert. Man ködert den Zuschauer damit, zu erfahren wie es wirklich gewesen ist. Geschichtsschreibung als Enthüllungsjournalismus.

In Yvonne Rainers „RoS INDEXICAL“ sitzen vier Tänzerinnen auf der Couch und betrachten nachdenklich das Publikum, das wiederum geduldig zu ihnen aufschaut. Gerade haben sie Passagen aus Vaslav Nijinskys berühmter Choreografie „Le Sacre du Printemps“ getanzt. Jetzt sind sie außer Atem. In ihr Schnaufen mischt sich wie ein Echo die Tonspur des längst vergangenen Skandals: zuerst ein Murmeln, dann immer lauteres Lachen und Rufen. Protest, Buhs, Beleidigungen. Die Uraufführung von „Sacre“ im Pariser Théâtre des Champs-Élysées am 29. Mai 1913 ging als Premiereneklat in die Theater- und Musikgeschichte ein. Die Moderne und ihr noch junges Konzept einer Kunst-Evolution in Avantgarden statuierten eines ihrer ersten Exempel. Der Saal geriet außer sich, weil Musik und Tanz nicht ihre eingeführte Stilistik bedienten.

Natürlich haben nicht etwa der Ballets-Russes-Impressario Sergej Diaghilev oder Igor Stravinsky den Abend zufällig mitgeschnitten. Eine Dokumentation der BBC, die Yvonne Rainer als Soundtrack dient, re-inszenierte das Epoche machende Spektakel 2006 aufgrund erhaltener Berichte und Erinnerungen spekulativ für die Kamera. Für die Tanzszenen brauchte man eine durch die us-amerikanische Tanzwissenschaftlerin Millicent Hodson 1987 rekonstruierte Fassung des „Ur-Sacre“ nur noch abzufilmen. Diese Produktion hat heute ihren Platz als Klassiker im Ballett-Repertoirebetrieb. Ein Publikum, das so laut revoltiert, dass Nijinsky seinerzeit die Musik von der Seitenbühne einzählen musste, und das so handgreiflich wird, dass sich Sitznachbarn tags drauf zum Duell trafen, sucht man bei heutigen Aufführungen natürlich vergeblich. Der Saal, den man so plastisch auf die Barrikaden Gehen hört, ist voller bezahlter BBC-Statisten.

Yvonne Rainer interessiert sich für den „Sacre“ als Station der Tanzgeschichte, aber auch als Projektion, die die Frage nach einem „Werk“ und seiner Zeitlichkeit in der flüchtigen Kunst des Theaters stellt. Beide Lesarten kreuzen sich an einem Punkt, und das sind diejenigen, die damals wie heute bezeugen, wie Gegenwart vergeht und Vergangenes erinnert wird: die Menschen im Parkett. Einmal lässt Rainer in einem fingierten, einstudierten Publikumsaufstand die Bühne stürmen. Noch mehr Statisten. Sie saßen mitten unter uns - sind wir womöglich selbst welche? Ihre gespielte Entrüstung hat etwas Träges, Bemühtes, Rührendes. Ins Auge fallen im gestikulierenden Pulk zwei nach originalem Kostümentwurf eingekleidete „Sacre“-Gestalten, bleiche, folkloristische Nachtgespenster. Im Foyer hatte man sie noch für besonders exzentrische Großstadtgeschöpfe gehalten.

Wer spielt hier mit wem und für wen? History is watching you. Geschichte, die wir immer von der Zentralperspektive einer Gegenwart aus entwerfen, wirft letztlich unseren Blick auf uns zurück. In „RoS INDEXICAL“ spukt auch das Alter Ego von Yvonne Rainer als lebendiger Tanzgeschichte. Als Gründerin des Judson Church Dance Theatre mit Steve Paxton und anderen hatte sie in den sechziger Jahren den Tanzbegriff revolutioniert. Ihre Choreografien integrierten Alltagsbewegungen; gleichzeitig verweigerten sie jede Form von Virtuosität. Sie suchten nach einem Körper, der eine möglichst pure eigene Präsenz entwickelt. Den „ausdrucksvollen Körper“ erklärte Judson dagegen zum Feindbild und ideologischen Phantasma. Diese mittlerweile historische Leistung würdigte „documenta“-Kurator Roger M. Buergel, indem er Rainer mit ihrer Uraufführung nach Kassel einlud. Er stellte die 72-Jährige als Ikone der Postmoderne neben ihre Kollegin Trisha Brown. Rainers lakonische Replik auf diese Ehre war im engen Kellertheater tif im Fridericianum schlecht platziert. Wirken konnte sie erst beim „Tanz im August“, standesgemäß gerahmt vom Jugendstilportal des ehemaligen Hebbel Theaters, heute HAU 1.

Das Berliner Tanzfestival hatte insgesamt kein gutes Jahr. „RoS INDEXICAL“ in Kombination mit Xavier Le Roys „Le Sacre du Printemps“ an einem Abend zu zeigen, war allerdings eine wunderbare Entscheidung der Kuratoren Bettina Masuch, Ulrike Becker und André Theriault. Spannt Yvonne Rainer die Zuschauer so in ihre harmlos und ein bisschen altbacken aufgemachte szenische Kollage ein, dass deren artige Konsumentenhaltung und die Faszination für das Skandalon des Originals obskur, absurd, vergeblich erscheinen, spitzt Xavier Le Roy die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Bühne und Publikum in einem effektvollen Bild zu: Der Tänzer dirigiert den Saal. Für die Länge einer „Sacre“-Aufzeichnung mit den Berliner Philharmonikern schlüpft Le Roy in die Rolle des Dirigenten Sir Simon Rattle.

Kaum ein Musikstück erzeugt eine vergleichbare rhythmische Gewalt wie „Le Sacre du Printemps“, und kaum ein Dirigent trägt die Emotionalität der Komposition so ungefiltert, fast mimetisch nach außen wie der Philharmoniker-Chef. Xavier Le Roy nutzt diesen doppelten Umstand für ein Experiment mit den Mechanismen von Energieübertragung im Theater, von Dominanz und Unterwerfung, Aktiv und Passiv, Suggestion und Imagination. Im Schutz des konzeptuellen Rollentauschs bewegt sich der hagere, hoch gewachsene Tänzer, der sonst Bewegung analytisch präzise setzt und zergliedert, ungewöhnlich expressiv. Die Arme schwingen weit, die Finger greifen aus, deuten hin, zeigen an. Die Mimik unterstreicht sie theatralisch. Es ist, als modelliere Le Roy den Klang der Aufnahme, der sich um sein Bemühen natürlich nicht schert, aus der Zuschauermenge heraus. Bei ungedimmter Beleuchtung sitzen wir mitten im Spiel. Kein unbeteiligter Platz auf dem Sofa ist hier zu vergeben. Le Roy bespielt das Publikum wie ein Instrument, lockt und fordert, provoziert und mobilisiert, bittet und gebietet. So wie ein Simon Rattle, der für das Orchester die Qualität eines Klangs vorweg performt, um sie bei den Musikern zu erzielen, und der doch in seiner Emotionalität vom Klang mitgerissen wird, den er erzeugt.

Der Einsatz ist hoch. Der Solist riskiert viel, sogar alles. Man fühlt sich zuerst zum Instrument degradiert, wenn der Tänzer-Zeremonienmeister einem direkt in die Augen schaut und einen Einsatz anzeigt, dem man nicht einmal Folge leisten kann, weil er vom Band kommt. Gleichzeitig schiebt sich das Publikum in seiner freigestellten Theaterrealität bei Licht besehen wie ein Filter zwischen den physischen Körper des Tänzers und die suggestive Wucht des Klangkörpers von Stravinskys Musik. Und Xavier Le Roy steht ganz und gar nicht mehr auf der sicheren Seite, sondern steckt in einer Zerreißprobe: zwischen Kontrolle und Überwältigung, reproduzierter Choreografie und spontaner Hingabe. Nie wird seine eindrucksvolle Performance zur Farce oder Karikatur. Im Gegenteil. Die Ernsthaftigkeit, mit der er sich seinem Selbstversuch ausliefert, erweckt beinah den Anschein einer Konfrontationstherapie. Schließlich war nichts seinem reflektierten Arbeitsansatz bisher ferner und suspekter als ein Tanz der Extase.

In gewisser Hinsicht ist Le Roy ein Erbe Yvonne Rainers und der Tanz-Postmoderne. Judson Church war der Versuch, den Körper als nichts als er selbst auf die Tanzbühne treten zu lassen. Aus dem Instrument sollte ein Akteur werden. Choreografen wie Le Roy müssen sich den schiefen Vorwurf des „Konzeptualismus“ gefallen lassen, weil sie minutiös herausarbeiten, dass kein Blick passiv und kein Körper frei von Instrumentalisierungen ist, und dass man beide nur reaktivieren kann, wenn man sich dessen bewusst wird. Der Franzose war beteiligt an einer Rekonstruktion von Rainers Stück „Continuous Project - Altered Daily“ (1970). Er hat damit anhand ihrer Arbeit eine ganz ähnliche Frage gestellt wie Rainer an den „Sacre“. Wie schreibt sich Geschichte fort? Und wie lässt sie sich aktualisieren, ohne dass wir ihr allzu lächerlich oder selbstvergessen Gewalt antun? Am Präzedenzfall „Le Sacre du Printemps“ haben sich Le Roy und Yvonne Rainer hier und jetzt getroffen. Dass sie den Zuschauer nicht nur auf sich selbst zurück werfen, sondern ihre eigene Autorität als Performer und Choreografin radikal zur Diskussion stellen, macht diese Begegnung so produktiv.