Raimund Hoghe zeigt 'Dialog mit Charlotte' im Mousonturm

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Es gibt Geschichten, die sind wahrer als das Leben. Die Menschen, die darin vorkommen, sind größer, schöner und unnahbarer als als all jene, denen man tagtäglich auf den Straßen begegnet. Sie tauchen plötzlich aus dem Halbdunkel der Erinnerung auf, um unsere geheimsten Wünsche und Sehnsüchte ganz allein auf ihre Schultern zu nehmen, so rein und entrückt wie Engel, denen man nie zu nahe treten darf, damit sie nicht aus Scheu sogleich wieder entschwinden. Wenn Raimund Hoghe vor Charlotte Engelke steht, reicht er ihr gerademal bis an ihre Brust. Er reicht ihr bunte Federsträuße, damit sie mit ihren spindeldürren Gliedern an seiner Statt einen ausgelassenen Mambo tanzen kann. Er reicht ihr die Hände zum traurigen Foxtrott, während eine Spieluhr verloren eine Melodie ins Dunkel der leeren großen Bühne tröpfelt. Und doch reicht er nie an sie heran.

Für „Dialog mit Charlotte“, nach seinen beiden Soli „meinwärts“ und „Chambre separée“ seine dritte eigene Theaterarbeit, hat sich Raimund Hoghe, der langjährige Dramaturg von Pina Bausch, Photograph und Journalist, entschlossen, seinen Sehnsüchten mit der schwedischen Tänzerin Charlotte Engelke, neun Jahr lang Protagonisten von Michel Laubs Ensemble „Remote Control“, eine ideale Form zu geben. Engelke ist all das, was Hoghe nicht ist: Mit ihrer hochgewachsen Gestalt von gläserner Schönheit steht sie dem kleinwüchsigen buckligen Mann zur Seite wie eine übermächtige Mutter. Am Anfang stehen sie mit dem Rücken zum Publikum Hand in Hand und gehen langsam zur Bühnenmitte, als nähmen sie bereits vom der Gegenwart eines Publikums Abschied bevor das Stück auch nur begonnen hat. Plötzlich halten sie inne, und Hoghe markiert mit einem Kreidestrich vor ihren Füßen, die Stelle, bis zu der sie gekommen sind. Mit einem ausgelassenen Sprung hüpfen sie darüber, rennen zur Bühnenrückwand, drehen sich zum Publikum und beginnen, kleine goldene Kugeln über den Boden zu rollen.

Alles an diesem Abend im Frankfurter Mousonturm, ist ein Kinderspiel, in der Erinnerung zu einem Kristall gepreßt, in dem sich die Welt des kleinen Raimund bricht. Seine schmerzhafte, für das Publikum bisweilen schmerzhaft lange Erinnerungsarbeit, ist auch eine Erinnerung an eine deutsche Kindheit in den fünfziger Jahren, die vom Wunsch geprägt ist, woanders und ein anderer zu sein. Das bewegenste Bild, das Raimund Hoghe dafür findet, ist dann auch eines des Körper- und Geschlechtertauschs. Sein Bild ist das der klassischen Ballerina. Im Dämmerlicht der Bühne bewegt sich Charlotte Engelke im Sitzen vor der Bühnenrückwand entlang. Sie stellt eine Reihe von kleinen Schwänen in Linie auf, um sich anschließend zu Tschaikowskys Musik aus dem zweiten Akt von „Schwanensee“ wie eine Ballerina mit übereinandergelegten Armen und trippelnden Schritten vom Boden zu erheben. Auf den ersten Blick sieht sie mit ihrer schwarzen Kleidung und ihren hochgesteckten Haaren aus wie Raimund Hoghe, eine optische Täuschung nur, die dabei doch der Realität des Wunsches näher ist als grelle Schminke.

Hoghe legt seine ganze Leidenschaft in die Musik. Er vertraut ganz auf die suggestive Kraft der alten Schlager und Chansons, deren Abfolge von Edith Piaf bis zum gewaltigen Bolero-unterlegten „What Now my Love“ von Judy Garland die Dramaturgie des Abends bestimmt. Dagegen bleiben Spiel und Aktionen auf der kahlen Bühne unterkühlt und rein funktional: ein kluger Kontrast, der jeden Anflug von Peinlichkeit und Kitsch unterbindet. Charlotte Engelke und Raimund Hoghe bewegen sich dabei stets auf parallelen Bahnen, ohne sich zu treffen. Ihre Blicke begegnen sich an diesem verzauberten Abend nur ein einziges Mal, wenn das ungleiche Paar zu einem italienischen Schlager die Lippen bewegt wie zwei Kinder, die mit der Zahnbürste vor dem Spiegel Popstar spielen. Ihre Beziehung wird durch Formen gestiftet, die sich metapherngleich auf der Bühne ausbreiten. So hält sich Hoghe etwa ein altes weißes Ballkleid vor die Brust, legt es feinsäuberlich im Halbkreis um sich herum, während Engelke zur gleichen Zeit an einem anderen Ort vergilbte Ansichtskarten um ihre Knie legt. Wenn sie sie vorliest, sieht es aus, als läse sie den Saum seines Kleides, in dem die Erinnerungen eingenäht schlummern.

Raimund Hoghes und Charlotte Engelkes Arbeit am Idealbild ist schmerzhaft, weil es so ehrlich ist. Es ist aber auch wunderschön, weil es so einfach ist. „Dialog mit Charlotte“ ist Arbeit am Ideal des Körpers, seiner Formen und Proportionen. Damit ist es auch eine Arbeit am Ideal des Balletts, der solche Körper wie den von Hoghe noch nie gebrauchen konnte. Um so wichtiger ist seine Anwesenheit.