Umarmt von allen Seiten

Der Tanzkongress Deutschland in Berlin ist zu Ende und hinterlässt gemischte Gefühle

Die Welt 1 Apr 2006German

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Am Ende stand die Zahl 1698. So viele Fachteilnehmer besuchten den Tanzkongress im Haus der Kulturen der Welt. Damit hat der erste deutsche Branchengipfel dieser Art seit den zwanziger und einem weniger prominenten Nachfolger in den fünfziger Jahren ein Ziel erreicht: quantitativ ist die Tanzszene sichtbar geworden. Inhaltlich warf der Event, mit dem die Kulturstiftung des Bundes ihr landesweites Förderprogramm Tanzplan startet, Fragen auf. Alles begann am Donnerstag mit dem Grußwort des Staatsministers für Kultur und Medien, Bernd Neumann, der verkündete, es sei ihm ein Anliegen, zur Bedeutung des Tanzes mehr zu sagen als „Grüß Gott!“ Viel Aussagekräftigeres folgte dem nicht, außer einem Hinweis auf die Anknüpfungspunkte zwischen Tanz und kultureller Bildung, „die wir besser nutzen sollten.“ Aus Neumanns Aussage spricht eine neue und im Grunde positive politische Aufmerksamkeit für den Tanz in Deutschland. Sie war von den Tanzschaffenden lange vermisst und gefordert worden. Doch die Medaille hat zwei Seiten.

Zwischen dem Tanzkongress heute und den nicht ohne Grund so betitelten „Tänzerkongressen“ der zwanziger Jahre besteht ein entscheidender Unterschied. Die Treffen damals wurden getragen und gestaltet von der Aufbruchbewegung des Ausdruckstanzes, von Choreografen und Tänzern wie Rudolf von Laban oder Mary Wigman. Die Gesellschaft als das zukünftige Wirkungsfeld von Tanz war auch seinerzeit Schlagwort. Aber: Künstler waren die Wortführer. Erst im Verlauf der dreißiger Jahre wurden ihre Ideen von politischer Seite aufgegriffen und mit dem nationalsozialistischen Projekt der Formung eines „Volkskörpers“ überlagert. Dieses bisher heikelste Kapitel deutscher Tanzgeschichte ist nicht vergessen, auch wenn sich nun mit gutem Willen eine nationale kulturpolitische Initiative des Wohles der Tanzszene annimmt. Deutlich mehr Fingerspitzengefühl bei der Formulierung der Ziele und Motivationen wäre deshalb angebracht. Bringt die Künstlerische Leiterin der Kulturstiftung, Hortensia Völckers, als Vertreterin der bundespolitischen Finanziers des Tanzkongresses 2006 diese in ihrer Eröffnungsrede auf die Formel: „Tanz zahlt sich aus für die Charakterbildung“, kommt die Irritation vieler ausländischer Gäste nicht überraschend. Marijke Hoogenboom, Gründerin des holländischen Postgraduierten-Programms DasArts, fand dafür in der Abschlussdebatte deutliche Worte und mahnte zur Vorsicht, den Tanz mit immer höheren wissenschaftlichen, sozialen und politischen Erwartungen aufzuladen. In Holland, so Hoogenboom diplomatisch, wäre eine kulturpolitische Geste wie die der Bundeskulturstiftung undenkbar.

Zwischen beiden Statements lagen drei Tage, in denen über 40 Vorträge, Colloquien und Podien Tanz aus neuro- oder kunstwissenschaftlicher Perspektive, mit den Instrumentarien der Philosophie, Medizin oder Pädagogik angingen, ergänzt durch Abendaufführungen. Mit Höhen, etwa als Jérôme Bel und der thailändische Tänzer Pichet Klunchun sich über ihre Arbeit befragten und statt zu üblichen Mustern kultureller Differenz zu fragilen Momenten der Nähe und Fremdheit gelangten. Und mit Tiefen: Die grundsätzlich löbliche Zusammenarbeit von Sasha Waltz und Vladimir Malakhov an einem Solo für den Berliner Ballettchef ergab 20 hilflose Minuten biografischer, akustisch kaum verständlicher Anspielungen und einen schlingernden Mischmasch aus klassischen und postmodernen Veratzstücken.

Die Umarmung des Tanzes, so zeigte der Tanzkongress, kommt momentan von allen Seiten und reicht von der durch den Film „Rhythm is it“ inspirierten Debatte über sein Potenzial für soziales Lernen, auf die Völckers' Begriff der Charakterbildung abzielt, bis hin zu dem in Deutschland durch die Leibnizpreisträgerin Gabriele Brandstetter anführten Aufschwung der Tanzwissenschaft als Disziplin. Diese Entwicklung birgt Chancen. Beim Tanzkongress führte sie aber, so zumindest der Eindruck der Tänzer und Choreografen, die in der Schlussdiskussion herbe Kritik übten, zu einem Übergewicht solcher Übergriffe auf das künstlerische Terrain, die für die Künstler nicht per se von Nutzen sind.