Personal Basics (German)

Sarma 23 Apr 2006German

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Contextual note
This is the statement of Constanze Klementz held during the Sarma-colloquium „Unfolding the Critical“ at Tanzkongress Deutschland 23.4.2006. The text was originally written in German and translated by Martin Nachbar in English. Constanze Klementz is a Sarma-critic, if you want to read more about here, please visit the following page constanze Klementz

Ich arbeite als Kritikerin. Nicht nur, aber auch deshalb habe ich ein nachvollziehbares Interesse daran festzustellen, dass der Kritiker als soziale Setzung nicht ausgedient hat – obwohl das meiste, was er in der Tradition seines Berufsstandes leisten soll, nicht mehr auf Augenhöhe mit der kulturellen Praxis aufschließt. Damit zusammen hängt die Frage, ob ein verändertes Potenzial des Kritischen nur ohne oder auch und vielleicht gerade am Beispiel der Figur des Kritikers gedacht werden kann.

Das Berufsbild „Kritiker“ geht auf ein institutionelles Verständnis von Kritik zurück, das mit meiner Wahrnehmung von Realität und der Teilhabe an dieser Realität in zeitgenössischer Kunst und Gesellschaft kaum noch etwas zu tun hat. Wie allgegenwärtig Kritik als Königsweg der Analyse und Beurteilung von Welt (oder Kunst) nach einem allgemein verbindlichen und dieser Welt (oder Kunst) vor- und übergeordneten Set von Kategorien trotzdem ist, weiß der Kritiker so gut wie niemand anders.
Man fordert von ihm in fast allen Bereichen des publizistischen – und ich meine hier in meinem Fall vor allem journalistischen – Alltags, dass er dem alten Muster folgt: Analyse, Interpretation, Urteilsfindung vor der Folie eines Fachwissens und mit Hilfe eines möglichst lückenlosen Begriffsapparates, der seinen Gegenstand umschließt, um dessen verborgenen Sinn aufzuschließen. Oder aber: Man reduziert den Kritiker auf sein Produkt, die Kritik als Text. Schwindet erst der Glaube an die eine zu enthüllende „Wahrheit“ der Kunst, schwindet oft auch die Bereitschaft, jegliche wie auch immer geartete Verantwortung des Kritikers, wenn nicht für, so doch gegenüber seinem Gegenstand in Betracht zu ziehen. Dann geht es nur noch um Kurzweil, Brillanz, zündende Polemik, ein unterhaltsames Textstück.

Das Feuilleton als Format, in dem Kunst im Informationsmedium Tageszeitung seinen Platz hat, versteht sich als Abbild kultureller Diskurse. Dieses Abbild wird hergestellt, indem man ausgewählte Stellvertreter zu Wort kommen lässt. Zwischen ihrer „Relevanz“ für das Entwirren, Verstehen und Bewerten von Realitätszusammenhängen und ihrem privilegierten Zugriff auf eine Öffentlichkeit wird ein Zusammenhang konstruiert. Die Repräsentativität der Auswahl dieser Stellvertreter ist gleich der Repräsentativität des Abbildes.
Der Kritiker ist Stellvertreter nicht, weil er einen, sondern weil er einen besonderen, einen besonders ausgebildeten, erfahrenen, eben relevanten Zuschauer darstellen soll. Indem der Kritiker als „unabhängige“, „unbestechliche“ Autorität im Dienste einer Redaktion installiert wird, versichert sich die Redaktion ihrer Seriosität und Kompetenz und der Kritiker sich umgekehrt der seinen. In diesem doppelten Aufrichten des Kritikers als Autorität mischen sich Momente der Personalisierung und Objektivierung seiner Perspektive auf ungesunde Weise, was leicht zu einer Verzerrung der Selbstwahrnehmung führt. Doch in dem Moment, wo er zwischen seiner Person und seiner Funktion, den eigenen Strategien und den Strategien des Systems, in dem er sich bewegt, nicht mehr unterscheiden kann (oder will), koppelt sich der Kritiker von seiner zeitgenössischen Arbeitsrealität selbst ab.

Dass man seine Arbeit nie mit dem System identifizieren darf, in dem sie stattfindet, dass sie sich aber gleichzeitig an nichts so aktiv und fortwährend abarbeiten muss wie an den Mechanismen und Implikationen dieses Systems, habe ich nicht am Schreibtisch, sondern in Theater begriffen.

Ähnlich wie das traditionelle Modell der Kritik hat die Black Box deshalb so gut und lange überlebt, weil sie sich als ein System, das die Art und die Qualität unserer Wahrnehmung von Welt wie eine Schablone ausrichtet, neben, bzw. über und nicht in diese Welt gesetzt hat.
Ich habe meine ersten Erfahrungen als Kritikerin in einer Zeit gemacht, in der der Tanz als seine Akteure verstärkt nicht nur diejenigen auf der einen Seite der vierten Wand, sondern die Gesamtheit aller Anwesenden im Theater anzusehen begann und in der er sich mindestens ebenso wie für den Tänzer für den Zuschauer als Knotenpunkt von Bewegung, Bewegtheit, Sinn interessierte. Beeindruckt und geprägt haben mich Stücke, die es nicht dabei beließen, das Theater als die hierarchische, autoritäre, anachronistische Maschine zu bedienen oder zu geißeln, die es in vieler Hinsicht ist. Stattdessen trotzten sie dieser Maschine, indem sie einzelne Rädchen gezielt blockierten oder heiß laufen ließen, Momente des Leerlaufs, des Kollaps, der Rhythmusstörung ab. In solchen Momenten, die sich nicht im demonstrativen Herzeigen von Funktionsaussetzern erschöpften, sondern die wie Poren offen standen und warteten, was ich mit ihnen unternehmen würde, war ich in erster Linie als Betrachter – und nur insofern jeder Kritiker schlicht ein Betrachter ist, auch als Kritiker – genötigt, mich mit mir und meiner Rolle in diesem Spiel zu befassen. Ich war kein Stellvertreter, auch keine Autorität, sondern ein Kollaborateur, und das hat mich anfangs, mit meiner damaligen Definition kritischer Distanziertheit im Hinterkopf, unter einigen Rechtfertigungszwang gesetzt. Irgendwann musste ich aber, ob ich wollte oder nicht, aufhören, ein Terrain zu verteidigen, das mir nicht gehört.

Was ich sagen will ist: Ich habe das, was ich tue, in einem Umfeld aus künstlerischen Untersuchungsgegenständen gelernt, das mich sozusagen zu der Einsicht genötigt hat, dass mein so genannter Gegenstand gar kein Gegenstand ist. Nicht ein Werk, dem ich in meiner besonderen Rolle nutzen oder schaden könnte, sondern ein Vorgang der Kommunikation.
Beschreibt man diese Kommunikation, in die jedes Zusammentreffen von Kunst und Betrachter mündet, als einen Dialog, ist es weder so, dass der Kritiker die Fragen stellt und die Kunst antwortet noch umgekehrt. Eher empfinde ich die Form dieser Unterredung als ein unberechenbares, inspiriertes und inspirierendes, infiltriertes Selbstgespräch. Jede Reflexion des Kritikers über ein Stück ist natürlich zu einem wesentlichen Teil: Selbstreflexion. Schön für ihn, könnte man sagen und fragen, für wen diese Selbstreflexion noch von Interesse sein soll, wenn man sich von seiner Vorbildfunktion und seiner Rolle als Superzuschauer doch verabschiedet hat.

Ich denke, dass Kritik in dem Moment eine neue Art von Potenzial entwickeln kann, wo der Kritiker es dem Leser ermöglicht, in ihm „nur“ einen anderen Betrachter mit einer anderen Sichtweise zu sehen, wo der Leser jedes Recht (und gar keine andere Wahl) hat, als den Text, den er liest, ebenso aufmerksam zu vereinnahmen wie das Stück, das er sieht. Das geschieht wie im Theater über Zwischenräume, die unbesetzt bleiben und die verhindern, dass die Maschine einfach nur rund läuft.
Ich habe dafür keinen Masterplan. Und ich weiß aus Erfahrung, dass man in neun von zehn Fällen bei diesem auf den ersten Blick vielleicht etwas prätentiös wirkenden Versuch scheitern wird. Trotzdem: Nur wenn Kritik nicht nur Kritik artikuliert, sondern Unschärfen im eigenen System zulässt und sogar herbeiführt, kann sie eine eigene Form der Durchlässigkeit an sich selbst herstellen. Die Unschärfen, die ich meine, sind keine Einladung an den Autor, vage oder unpräzise in der Annäherung an ein Stück zu werden. Sie stellen sich im Gegenteil nur durch sehr genaue Beobachtungs- und Textarbeit an mir und an dem, was ich wahrnehme her – nicht mit dem Ziel, das System „Kritik“ passgenau über ein Objekt zu stülpen, sondern seine Grenzen ausfransen zu lassen. Als Alternative zur Kritik plädiere ich also (nicht nur aus purer Selbsterhaltung) nicht für keine Kritik, sondern für eine Kritik, die sich selbst außer Gefecht zu setzen bereit ist.

Als Beuys sagte, dass jeder Mensch ein Künstler ist, folgte daraus nicht, dass der Künstler als ein Künstler damit generell überflüssig wird. Und wenn Wissenschaftlerinnen wie Irit Rogoff fordern, dass das Kritische nicht mehr durch Lizenz erworben und als Domäne verteidigt, sondern, so pathetisch das vielleicht klingt, freigegeben, geteilt und ausgelebt werden muss, fühle ich mich als Kritiker nicht automatisch um meine Existenzberechtigung gebracht. Im Gegenteil: Was der zeitgenössischen Choreografie recht war – zu sich und dem System, aus dem sie kommt, selbst Stellung zu beziehen, nicht aus der Distanz, die immer „anderen“ vorbehalten ist, sondern mitten aus ihrer Praxis heraus – das kann und sollte der Kritik nur billig sein. Ob sie diesen Spagat schaffen kann, zumal in einem in so viele praktische Zwänge eingespannten Format wie der Tageskritik, kann ich nicht sagen. Aber auf die Frage, wo in meiner Praxis ich persönlich den Ort für das Kritische sehe, an dem für mich als Kritikerin zukünftig die meiste Arbeit ansteht, wäre das meine Antwort.